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Interview

Was die Großelternkarenz bringen kann – und was nicht

Martin Halla, Professor für Volkswirtschaftslehre an der WU Wien, analysiert im Gespräch mit Selektiv den aktuellen politischen Vorschlag der Einführung einer Großelternkarenz in Österreich.

Als Bundeskanzler Nehammer Anfang des Jahres seinen „Österreichplan“ präsentierte, ging die Forderung nach einer Großelternkarenz neben anderen Maßnahmen ein wenig unter. Was kann man sich genau darunter vorstellen?

Martin Halla: So wie ich die knapp formulierte Forderung verstanden habe, soll es analog zum Kinderbetreuungsgeld auch einen Transfer für die Großeltern geben, wenn Oma oder Opa die Betreuung eines Enkelkindes übernehmen. Wenn die Großeltern noch berufstätig sind, soll auch eine Freistellungsmöglichkeit geschaffen werden. Ich gehe davon aus, dass der Anspruch der Eltern auf Kinderbetreuungsgeld und Karenz um das Ausmaß der in Anspruch genommenen Großelternzeit dann gekürzt werden sollte. Die Großelternkarenz ist wahrscheinlich nur für Familien, in denen alle drei Generationen in derselben Region leben, eine realistische Option.

Gibt es etwas Ähnliches schon in anderen Ländern und welche Erfahrungswerte kann man daraus ziehen?

In Schweden hat die liberal-konservative Regierung vor kurzem die Möglichkeit einer Großelternkarenz geschaffen. Vor der Reform konnten Eltern die maximale Karenzdauer von 480 Tagen unter sich aufteilen. Seit Juli dieses Jahres können Eltern insgesamt 90 Tage ihrer Elternkarenz auf ein anderes Familienmitglied übertragen. Es ist anzumerken, dass schwedische Väter (im Gegensatz zu Österreich) häufig und relative lange Elternkarenz in Anspruch nehmen. Da Forscherinnen in Schweden einen sehr guten Zugang zu administrativen Daten haben, werden wir in Zukunft sicherlich genaue Evaluationsergebnisse zu dieser Reform erhalten. Es wird sich zeigen, inwieweit diese Option angenommen wird und welche Familienmitglieder die Väter bzw. die Mütter bei der Betreuung unterstützen.

Auch in Ungarn können unter bestimmten Voraussetzungen die Großeltern eine Transferleistung für die Betreuung der Enkelkinder erhalten. Ich habe jedoch keine wissenschaftliche Evaluierung dieser gefunden. Darüber hinaus ist mir kein weiteres Land bekannt, in dem es eine staatlich geförderte Form der Großelternkarenz gibt. Über die schwedische Reform wurde jedoch viel in den amerikanischen und britischen Medien berichtet. Die Idee scheint auf Interesse zu stoßen.

Braucht es die Großelternkarenz also auch in Österreich? Was wären die möglichen Chancen bei einem gut umgesetzten Modell?

Die Elternkarenz(reform) sollte in erster Linie danach beurteilt werden, welche Auswirkungen sie auf die Entwicklung der Kinder und die Erwerbsbeteiligung der (Groß-)Eltern hat. Wenn es um die tägliche Betreuung von Kleinkindern geht, gibt es grob drei Optionen: die Eltern, eine Kinderkrippe oder die Großeltern. Der Staat kann diese Optionen in unterschiedlichem Maße zur Verfügung stellen und/oder subventionieren. Die Option der Großeltern ist derzeit die einzig nicht subventionierte Variante.

Wenn es um die Entwicklung der Kinder geht, so zeigen (nicht alle, aber) die meisten Studien, dass eine formelle Kinderbetreuung (d.h. eine Kinderkrippe oder ein Kindergarten) besser oder zumindest nicht schlechter ist als eine Betreuung durch die Eltern. Für Kinder mit Migrationshintergrund bietet eine formelle Betreuung vor allem eine ideale Möglichkeit zum Spracherwerb. Für eine informelle Betreuung – etwa durch Großeltern gibt es vergleichsweise wenig Evidenz. In einer Studie für Österreich finden wir aber, dass kleine Kinder sich in diesem Setting etwas schlechter entwickeln. Wenn durch die Einführung einer Großelternkarenz Kinder aus der Kinderkrippe „herausgenommen“ werden und in die Tagesbetreuung durch die Großeltern kommen, könnte dies meines Erachtens Nachteile im Sinne der Elementarpädagogik mit sich bringen. Natürlich können diesem „Verlust“ andere positive Effekt auf die Kinder oder die Großeltern gegenüberstehen. Es scheint naheliegend, dass eine Großelternkarenz die emotionale Bindung zwischen Enkelkind und Großeltern stärkt.

Besteht nicht auch die Gefahr, dass vor allem ältere Frauen diese Option für die Betreuung ihrer Enkel nutzen und somit noch früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden? Stichwort: Altersarmut

Genau, hier sind wir bei den arbeitsmarktpolitischen Implikationen einer Großelternkarenz. Wenn die Großeltern noch erwerbstätig sind, würde die Inanspruchnahme der Großelternkarenz ihre Erwerbstätigkeit reduzieren (z.B. zu einem früheren Pensionsantritt führen) und im Gegenzug die Erwerbstätigkeit der Mütter (oder jene der Väter) erhöhen, da diese nun kürzer in Elternkarenz sind. Für den Arbeitsmarkt wäre dies ein „Nullsummenspiel“. Aus einer Studie wissen wir, dass bereits jetzt einige Großmütter (auch ohne Großelternkarenz) aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, um bei der Betreuung der Enkelkinder zu helfen. Dies wären dann Mitnahmeeffekte einer Reform.

Bei Großeltern, die bereits in Pension sind, könnte die Inanspruchnahme der Großelternkarenz unter dem Strich durch die verkürzte Elternkarenz zu einem Beschäftigungszuwachs führen. Wenn die Großmütter die Väter bei der Kinderbetreuung „verdrängen“, wäre dies im Sinne einer gerechteren Verteilung der Care-Arbeit zwischen den Geschlechtern ein Verlust. Bis dato sind die österreichischen Väter noch relativ wenig (oder kurz) in Elternkarenz.

Welche weiteren Gefahren könnten sich aus Ihrer Sicht ergeben?

Zusammenfassend sehe ich für einen Teil der Kinder eine Reduzierung der formellen Betreuungszeiten, was sich unter Umständen negativ auf ihre Entwicklung auswirken könnte. Auf dem Arbeitsmarkt könnte es im besten Fall zu einem leichten Beschäftigungszuwachs kommen, wobei gleichzeitig eine Umverteilung der Betreuungsarbeit von den Müttern (oder Vätern) zu den Großmüttern (oder weniger wahrscheinlich zu den Großvätern) stattfindet. Der Steuerzahler würde natürlich auch zur Kasse gebeten. Einen positiven Effekt auf die Fertilität halte ich für unwahrscheinlich.

Von Seiten der Grünen aber auch der SPÖ wird starke Kritik an der Großelternkarenz geübt. SPÖ-Frauensprecherin Eva-Maria Holzleitner bezeichnete den Vorschlag als „rückschrittlich“ und meinte, dass man zunächst das Angebot öffentlicher Kinderbetreuung ausbauen müsste. Können Sie die Kritik nachvollziehen?

Linke Politiker bevorzugen in der Regel formale Kinderbetreuung und eine möglichst hohe Erwerbsbeteiligung von Müttern (bzw. Frauen im Allgemeinen). Konservative Politiker bevorzugen die Betreuung innerhalb der Familie. Die Großelternkarenz wäre eine Subventionierung der von konservativen Politikern bevorzugten Variante. Hinter den unterschiedlichen ideologischen Positionen stehen in der Regel unterschiedliche Annahmen. So kommen Politiker zu unterschiedlichen Präferenzen, weil sie glauben, dass die eine Betreuungsform besser für die Familie ist als die andere.

Familienpolitik wird in Österreich zumeist hochideologisch diskutiert. Wie könnte man in Zukunft zu einer sachlicheren Debatte beitragen?

Familienpolitik sollte sich evidenzbasiert am Kindeswohl orientieren. Im konkreten Fall sollten wir vor allem darauf achten, dass unsere Kinder eine sehr gute Elementarpädagogik erhalten, denn darauf bauen die weiteren Bildungsstufen auf. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass diese frühen Jahre entscheidend für den weiteren Lebensweg sind und wesentlich zu einem glücklichen und erfolgreichen Leben beitragen können. Ich interpretiere die diesbezügliche empirische Evidenz so, dass man die Elementarpädagogik den Kinder am besten im Rahmen einer formellen Betreuung angedeihen lässt. Das bedeutet, dass öffentliche Gelder in diesem Bereich gut investiert sind. Diese Investitionen zahlen sich in Form von zukünftig geringeren Sozial- und Gesundheitsausgaben bzw. höheren Steuereinnahmen mehr als aus. Natürlich sollte man diese Investitionen und Erträge stets evaluieren. Das heißt selbstverständlich nicht, dass Familien nicht selbst entscheiden sollen, ihre Kinder zu Hause (oder durch die Großeltern) zu betreuen. Der Staat sollte dies aber nicht – wenn die formale Kinderbetreuung die Entwicklung des Kindes am besten fördert – durch großzügige (Groß-)Elternzeit subventionieren.

Martin Halla

Martin Halla ist seit Oktober 2023 Professor für Gesundheitsökonomie und Digitalisierung an der WU Wien (Zuvor: JKU Linz). Sein Forschungsgebiet umfasst die angewandte Mikroökonometrie in den Bereichen Arbeit, Familie und Gesundheit.

Halla, geboren 1980 in Linz, studierte Ökonomie an der Universität Linz und habilitierte 2012 mit einer Arbeit zum Thema Angewandter Mikroökonometrie. Er lebt derzeit in Wien und hat zwei Kinder.