Die ehemalige ZIB-Moderatorin und langjährige ORF-USA-Korrespondentin Hannelore Veit spricht im Interview mit Selektiv über die gesellschaftliche und wirtschaftliche Stimmung in den USA, welche gravierenden Auswirkungen die protektionistischen Tendenzen von sowohl Donald Trump als auch Kamala Harris für Europa haben werden und ob US-Präsident Joe Biden sich nicht schon viel früher von einer erneuten Kandidatur hätte zurückziehen sollen.
Heute fällt die Richtungsentscheidung in den USA: Donald Trump oder Kamala Harris – die Umfragen kennen wir alle, wie schätzen Sie die Lage ein?
Hannelore Veit: Angesichts der Umfragen: Fifty-Fifty. Alles andere wäre unseriös.
US-Präsident Joe Biden ist unter anderem mit dem Slogan „Battle for the Soul of our Nation“ angetreten – konnte er diese Schlacht gewinnen, hat er die USA einen können, Gräben zuschütten?
Nein, die Gräben sind, soweit es überhaupt möglich war, noch tiefer geworden. Die Gesellschaft ist gespalten. Es hat ein schwarz-weiß Denken um sich gegriffen, als gäbe es die vielen Grauschattierungen dazwischen nicht. Dazu beigetragen haben die Mainstream Medien, die klassischen Medien, die sich seit der Präsidentschaft Trumps in reine Pro-Trump oder Anti-Trump Medien entwickelt haben. In der Mitte ist es dünn geworden, ausgewogene Berichterstattung findet nur selten statt. Das hat auch zu einem messbaren Vertrauensverlust in die Medien geführt und den Rückzug in Echokammern verstärkt, die die eigene Meinung verstärken. Die Sozialen Medien haben großen Anteil an dieser Entwicklung.
Donald Trump findet mehr Zuspruch unter Latinos und zu einem kleinen Teil auch unter Afro-Amerikanern – während Kamala Harris vor allem bei weißen Wählern zulegt. Ist das Land also noch versöhnbar, oder ist die Spaltung unumkehrbar?
Auch Minderheiten sind gespalten. Sowohl Latinos als auch Schwarze wählen traditionell mehrheitlich demokratisch, aber die Zahl der Trump-Wähler unter Latinos steigt stetig an. Und das obwohl Donald Trump gleich bei seinem allerersten Wahlkampfauftritt 2015 – bei der Ankündigung seiner Kandidatur – von Mexikanern als Mördern, Vergewaltigern und Drogenhändlern gesprochen hat und auch schon gesagt hat: „Illegale Migranten vergiften unser Blut“. Je länger Minderheiten im Land leben, desto mehr verhalten sie sich wie der Rest der Gesellschaft, ist die gängige Analyse. Gerade bei jungen Afroamerikanern ist zu beobachten: Trump spricht Männer an, während Frauen zu Kamala Harris tendieren, hier gibt es eine klare Gender-Kluft.
Sollte Trump die Rückkehr ins Weiße Haus nicht gelingen, werden er und seine Anhänger das Ergebnis respektieren? Wird der 6. Jänner 2025 ähnlich turbulent wie jener 2021?
2021 hat es einen enormen Mangel an Sicherheitsvorkehrungen gegeben. Einen neuerlichen Sturm auf das Kapitol erwarte ich diesmal nicht, aber dass es zu Gewalt kommt, ist nicht ganz auszuschließen. Ich bin sicher, Donald Trump wird auch diesmal behaupten, er habe die Wahl gewonnen, egal wie sie ausgeht. Es kommt darauf an, wie sich der radikale Teil seiner Anhänger verhält, wenn Trump verliert und seine Niederlage nicht eingestehen will. Mit Sicherheit können wir uns auf lange Auszählungen und Neuauszählungen der Stimmen in einigen umkämpften Bundesstaaten einstellen.
Kamala Harris ist die unbeliebteste Vizepräsidentin seit Dick Cheney, konnte in den letzten vier Jahren kaum eigene Akzente setzen und in ihrem eigenen Präsidentschaftswahlkampf 2020 hat sie es nicht einmal bis zur ersten Vorwahl geschafft – an ihren priors hatte sich mit der Kandidatur 2024 eigentlich nichts verändert. War der mediale Hype um Kamala Harris jemals gerechtfertigt?
Kamala Harris hat eine solide Karriere als ambitionierte Staatsanwältin und Justizministerin in Kalifornien hinter sich, hat aber nicht die Volksnähe, die Joe Biden hat, oder in jüngeren Jahren hatte. Ihre Zustimmungswerte waren noch schlechter als die Joe Bidens. Ich war selbst überrascht über den steilen Anstieg ihrer Popularität seit dem Rücktritt Bidens, ich hätte ihr das nicht zugetraut. Mitgespielt hat da sicher die Erleichterung, dass der ganz klar mit Altersproblemen kämpfende Joe Biden endlich aufgegeben hat. Der Hype hat sich inzwischen abgeflacht. Harris hatte wenig Zeit ein eigenes Programm zu entwickeln und kann nicht immer klar vermitteln kann, was ihre Linie ist.
Hat Joe Biden mit seinem Rücktritt von der Kandidatur zur zweiten Amtszeit zu lange gezögert; und war dieser Rücktritt überhaupt so freiwillig?
Der Rücktritt kam viel zu spät – und erst unter enormem Druck. Erinnern wir uns, sogar George Clooney hatte ihn in einem Beitrag in der New York Times aufgefordert, das Feld für andere freizumachen. Joe Biden hat sich mit seinem Starrsinn selbst geschadet.
Gab es im Bezug auf sein Alter, seine Amtstauglichkeit, seine Aussetzer, seine gaffes ein Medienversagen?
Ich meine: Ja. Dass es mit Biden gesundheitlich bergab ging, war schon lange erkennbar. Die liberalen Medien haben sich unglaublich lange zurückgehalten. Bidens Team hatte mit allen Mitteln versucht, die Situation zu beschönigen und hatte den Präsidenten abgeschirmt – was aber für kritische Medien kein Grund sein sollte, das nicht zum Thema zu machen.
Egal wer gewinnt, die USA sind auf dem Weg die Staatsverschuldung und Budgetdefizit erneut auszuweiten. Wie nachhaltig ist die derzeitige US-Budgetpolitik und (wann) kommt das böse Erwachen?
Beide Kandidaten versprechen weitere Steuersenkungen, allerdings anders gelagert: Trump für alle, auch Reiche, und vor allem für Unternehmen. Unternehmenssteuern, die er in seiner Amtszeit gesenkt hat, will er weiter senken. Kamala Harris dagegen setzt auf Sozialpolitik, spricht von einer Erhöhung der Unternehmenssteuern, von Steuersenkungen für niedrige Gehälter bis zu einem Haushaltseinkommen von 400.000 Dollar pro Jahr (was hier in Europa wohl kaum als niedrig angesehen werden kann). Mit beiden Kandidaten wird das Budgetdefizit weiter steigen, aber unter Donald Trump würde das Defizit wesentlich stärker wachsen als unter Kamala Harris, rechnet das unabhängige Committee for a Responsible Federal Budget vor.
Die Biden-Administration scheint die Handelspolitik von Trump fortgesetzt bzw. sogar einen draufgesetzt zu haben, erst im September wurden die Zölle auf chinesische Elektroautos (100%), Photovoltaik-Module (50%) und Akkus (25%) erhöht. Wie sehr hat Donald Trump (oder die Angst vor ihm) die policy der Biden-Regierung beeinflusst?
Donald Trump hat mit seinen Strafzöllen auf chinesische Importe Joe Biden einen Gefallen getan: Joe Biden hat diese Zölle nicht selbst einführen müssen, er konnte sie einfach weiterlaufen lassen. China ist definitiv der Rivale Nummer Eins, für Demokraten und für Republikaner. Trump spricht von 60-prozentigen Zöllen auf Importe aus China, aber auch von 10-prozentigen Zöllen auf alle Importe – also auch aus Europa. Die Frage ist bei Trump immer: Was kündigt er an und was macht er wirklich?
Wird eine zukünftige Regierung diese „America First“-Politik fortsetzen und was würde das für die EU im globalen Wettkampf bedeuten?
Beide Seiten würden die „America First“-Politik fortsetzen. Die EU wird sich anstrengen müssen, freilich mehr unter einem Präsidenten Trump als einer Präsidentin Harris. Die US-Handelpartner werden Jobs an die Amerikaner verlieren, kündigt Trump an. Europa wird sich warm anziehen müssen.
2016 konnte Trump auch aufgrund seiner Opposition zu Freihandelsabkommen wie NAFTA reüssieren – Hillary Clinton hatte das unter ihrem Mann abgeschlossene Abkommen im Wahlkampf noch verteidigt; Kamala Harris sagt, sie hätte nicht dafür gestimmt. Ist das dem Wahlkampf geschuldet oder haben sich die Demokraten geändert und auch vom Freihandel abgewandt?
Die Zeiten haben sich geändert. NAFTA war nicht mehr zeitgemäß, im Rust Belt hat man immer wieder gehört, NAFTA sei am Niedergang der amerikanischen Industrie schuld gewesen. Globalismus ist inzwischen ein negativ besetztes Wort. Beide Kandidaten sprechen davon, Jobs zurück nach Amerika bringen zu wollen. Joe Bidens Inflation Reduction Act aus dem Jahr 2022 ist ein Beispiel dafür. Protektionistische Tendenzen gibt es auf beiden Seiten.
1992 hieß es „it’s the economy, stupid“ – der US-Wirtschaft geht es heute im internationalen Vergleich extrem gut, müsste das nicht einen Erdrutschsieg für die Demokraten bedeuten?
Die Demokraten haben es nicht geschafft, ihre eigenen Errungenschaften im Wahlkampf gut zu verkaufen. Es geht der US-Wirtschaft gut. Was für viele Amerikaner und Amerikanerinnen zählt, ist aber das subjektive Empfinden: Alles ist so teuer geworden. Das hört man immer noch überall, auch wenn die Inflation wieder auf Normalniveau ist, die Löhne gestiegen sind. In den Köpfen der Menschen ist das nicht angekommen. Die hohe Inflation ist unter Biden eingetreten, ihm wird die Teuerung angelastet. Eine wichtige Frage bei allen Wahlen der letzten Jahrzehnte ist: Geht es mir heute besser als vor vier Jahren, also unter dem vorigen Präsidenten? Und da sagen die meisten – subjektiv – Nein. It’s the economy, stupid gilt also auch in diesem Wahlkampf.
Zur Person
Hannelore Veit war von 1985 bis 1989 Korrespondentin des amerikanischen Radiosenders Voice of America in Wien, danach Korrespondentin des European Business Channel und anschließend des ORF in Tokio. Ab 1993 moderierte sie im ORF die Zeit im Bild und war ab 2013 USA-Korrespondentin des ORF in Washington. Seit Jänner 2021 ist sie als Kommunikationstrainerin und Moderatorin selbstständig und pendelt zwischen Österreich und den USA. Ende September 2024 erschien ihr neuestes Buch „Wer hat Angst vor Donald Trump?“ im Ecowing Verlag.