Johannes Berger im Interview mit Selektiv © Selektiv
Johannes Berger von EcoAustria im Interview mit Selektiv © Selektiv
Interview

Ökonom: Brauchen 20.000 qualifizierte Zuwanderer jedes Jahr

Johannes Berger ist Leiter des Forschungsbereichs Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung bei dem Wirtschaftsforschungsinstitut EcoAustria und spricht im Interview mit Selektiv über den Arbeitskräftemangel und gängige Mythen zu den Themen Arbeitszeit, demografischer Wandel und qualifizierte Zuwanderung.

Ältere sollen aufgrund des wachsenden Arbeitskräftemangels und der demografischen Entwicklung länger im Arbeitsleben bleiben. Ist die Meinung, dass es dann zu wenig Jobs und Karrierechancen für Junge gibt, überholt?

Johannes Berger: Diese These war der ursprüngliche Grund, warum in den 70er- und 80er-Jahren in vielen westeuropäischen Ländern die vorzeitige Alterspension ermöglicht bzw. ausgeweitet wurde – auch in Österreich. Bei uns ist dadurch das Pensionsantrittsalter um rund drei Jahre gesunken. 

Ein Fehler?

Hinter dieser These steckt das, was wir Ökonomen die Boxed-Economy-Hypothese nennen. Die besagt, dass es eine mehr oder weniger fixe Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen gibt und dementsprechend eine mehr oder weniger fixe Nachfrage nach Arbeitskräften. Das hat sich aber größtenteils als Trugschluss herausgestellt. Schon rund um das Jahr 2000 hat man festgestellt, dass hohe Beschäftigungsquoten älterer Menschen durchaus mit hohen Beschäftigungsquoten von Jungen positiv korreliert sind. Es ist ein Zeichen dafür, dass der Arbeitsmarkt funktioniert, dass in einem Land oder in einer Region einfach gute Bedingungen vorherrschen. Jetzt kommt auch noch ein hoher Arbeitskräfte- und Fachkräftebedarf dazu, was die These noch weniger richtig macht. 

Die Wirtschaft stagniert und die Zahl der offenen Stellen sinkt bereits wieder…

Relativ zur Wirtschaftsentwicklung ist der Arbeitsmarkt recht stabil. Wenn dann hoffentlich irgendwann die konjunkturelle Lage wieder anzieht, dann wird der Arbeitskräfte- und Fachkräftebedarf wieder deutlich stärker schlagend werden. Auch deswegen, weil die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge, wir sprechen größtenteils von den 1960er-Jahrgängen, bereits jetzt und in den nächsten Jahren den Arbeitsmarkt verlassen.

Deshalb sollen jetzt die Jungen mehr arbeiten, oder zumindest nicht weniger, und die Älteren länger. Wie soll das gelingen? 

Ganz einfach, indem wir Rahmenbedingungen schaffen, die funktionieren. Die Abgabenbelastung auf das Erwerbseinkommen ist derzeit einfach zu hoch und beeinflusst das Arbeitsangebot negativ. Außerdem könnte man sich überlegen, wie einfach die vorzeitige Alterspension zugänglich sein soll. Das sind politische Entscheidungen, ob man da Schritte setzen will.

Falls uns das alles nicht gelingt, brauchen wir mehr qualifizierte Zuwanderung. Wie viele Zuwanderer brauchen wir denn jährlich, um das schrumpfende Angebot inländischer Arbeitskräfte auszugleichen? 

In der Vergangenheit hatten wir immer einen deutlichen Anstieg der erwerbsfähigen Bevölkerung. In der Gruppe der 20- bis 64-Jährigen in Österreich gab es zum Beispiel im Jahr 1982 noch 4,3 Millionen Personen und die Gruppe ist laufend und deutlich größer geworden. Aktuell sind es ungefähr 5,55 Millionen. Das und die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen waren die wesentlichen Treiber für das Beschäftigungswachstum. Jetzt sind wir aber bei der Trendwende. Weil die Babyboomer-Generation jetzt und in den nächsten Jahren den Arbeitsmarkt verlassen wird, gibt es heuer laut Bevölkerungsprognose erstmals einen leichten Rückgang. Und bis zum Jahr 2035 soll diese Zahl von 5,55 Millionen auf 5,3 Millionen zurückgehen. Das sind immerhin etwa 250.000 Personen weniger. In dieser Bevölkerungsprognose wird aber bereits von einer Zuwanderung von mehr als 30.000 Personen pro Jahr ausgegangen. Wenn wir uns das für die nächsten zehn Jahre ansehen, dann würde das bedeuten, dass wir jedes Jahr 20.000 zusätzliche qualifizierte Zuwanderungen nach Österreich brauchen. Qualifizierte Zuwanderung ist aber nur ein Teil der notwendigen Maßnahmen. 

Derzeit ist die qualifizierte Zuwanderung viel niedriger, wenn man einen Blick auf die Rot-Weiß-Rot-Karten wirft.

Die Frage ist natürlich, was man unter qualifizierter Zuwanderung versteht. Wir hatten ja in den letzten Jahren eine deutliche Zuwanderung von manchmal mehr als 100.000 Personen pro Jahr, manchmal auch weniger. Das umfasst nicht nur Asylmigration. Es gibt auch eine durchaus beträchtliche Zuwanderung aus europäischen Ländern. Die Rot-Weiß-Rot-Karte ist für qualifizierte Zuwanderung aus Drittstaaten da. Zuletzt lag die Zahl der bewilligten Karten noch deutlich unter 10.000 Personen pro Jahr. 

Wie kann man qualifizierte Zuwanderung fördern?

Zunächst geht es ganz allgemein darum, gute Bedingungen zu schaffen. Arbeits- und Lebensbedingungen, die die ansässige Bevölkerung gut findet, sind natürlich auch für Zuwanderer attraktiv. Die hohe Abgabenbelastung auf das Erwerbseinkommen ist sicher hinderlich. Wir sprechen aber auch zum Beispiel von besserer Kinderbetreuung, insbesondere im ländlichen Raum. Außerdem könnte man zum Beispiel einen weiteren Abbau der bürokratischen Hemmnisse bei der Rot-Weiß-Rot-Karte überlegen, wobei da schon einiges passiert ist. Und es geht auch darum, die Anrechnung von Qualifikationen, von ausländischen Qualifikationen effizienter zu gestalten. 

Während die Arbeitskräfte weniger werden, wird interessanterweise der Ruf nach einer Arbeitszeitverkürzung lauter. Argumentiert wird das mit der stark gestiegenen Produktivität – auch durch die Digitalisierung. Wie sehen Sie das als Ökonom?

Der amerikanische Ökonom Robert Solow hat das so zusammengefasst: „You can see the computer age everywhere but in productivity statistics“. Das ist auch in Österreich so, wenn man sich die Produktivitätsentwicklung der letzten zehn bis 15 Jahre ansieht. Wir sind da im Bereich von weniger als einem Prozent pro Jahr pro Arbeitsstunde. Das ist sehr moderat. Das spricht zunächst einmal nicht für eine Arbeitszeitverkürzung, würde ich sagen. Die vergangenen Arbeitszeitverkürzungen der 1960er- und 1970er-Jahre fanden in einem ganz anderen wirtschaftlichen Umfeld statt. Eine Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich würde die sogenannten Lohnstückkosten weiter ansteigen lassen und die Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Volkswirtschaft schwächen. Ohne Lohnausgleich stellt sich die individuelle Frage, was ich bevorzuge: höheres Einkommen oder mehr Freizeit. Der Preis für mehr Freizeit sind dann geringere Einkommenszuwächse. So oder so: eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung würde das Arbeitsangebot reduzieren, was bei dem hohen Arbeitskräftebedarf kontraproduktiv ist, und damit die Wirtschaft schwächen. Ein Beispiel: Wir haben in aktuellen Modellsimulationen die Auswirkungen einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung auf 32 Stunden analysiert. Je nach untersuchtem Szenario ist das reale BIP um fünf Prozent oder sogar noch schwächer als im Szenario ohne Arbeitszeitverkürzung.

Johannes Berger

Johannes Berger ist Leiter des Forschungsbereichs Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung bei EcoAustria. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen ökonomische Fragestellungen in den Bereichen Arbeitsmarkt, öffentliches Abgabensystem und Pensionen auf nationaler und internationaler Ebene. Zuletzt hat er für EcoAustria eine „Policy Note“ zum Thema „Herausforderungen beim Arbeits- und Fachkräftemangel“ verfasst.

Berger studierte Technische Mathematik mit Schwerpunkt Wirtschaftsmathematik an der Technischen Universität Wien, wo er 2004 zum Diplom-Ingenieur graduiert wurde. Von 2005 bis Ende 2011 war er als Forschungsassistent in der Angewandten Forschung am Institut für Höhere Studien (IHS) tätig.