Die Europäische Union verliert zunehmend an Gewicht in der Weltwirtschaft. Damit einher geht ein schleichender Verlust an Wohlstand mit all seinen Folgen. Wie kann der „alte Kontinent“ wirtschaftlich wieder zu alter Stärke zurückfinden? Ein Schlüssel dafür ist der EU-Binnenmarkt, also der gemeinsame Markt der EU-Länder, die als einzelne Nationalstaaten mit Handelsbarrieren am Weltmarkt kaum ins Gewicht fallen. Die EU-Kommission erteilte im Herbst 2023 den Auftrag zur Erstellung eines umfangreichen Berichts über die Zukunft des Binnenmarkts an Erico Letta. Letta war von April 2013 bis Februar 2014 Ministerpräsident Italiens und erstellte den Bericht in seiner Funktion als Präsident des Jacques Delors Instituts in Paris. Der Namensgeber und Gründer des Instituts war wesentlicher Architekt des größten Binnenmarkts der Welt, der seit 1993 den freien Handel und Reisen ohne Pass ermöglicht. Jacques Delors starb am 27. Dezember 2023 im Alter von 98 Jahren.
Trotz seines grundsätzlichen Erfolgs sei der Binnenmarkt „zahnlos“ geblieben, wie Letta dem Portal „Politico“ erklärte. Der als „Letta-Bericht“ bekannt gewordene Report ist 146 Seiten stark und wurde im April 2024 bei einem Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel präsentiert. „Im aktuellen globalen Kontext kann und sollte Europa seine führende Rolle im produzierenden Sektor nicht an andere abgeben“, schreibt Letta in dem Papier und warnt vor einer Deindustrialisierung, die nicht rückgängig gemacht werden könne. Für Ende Juni wird ein weiterer Bericht zum Thema Wettbewerbsfähigkeit von Mario Draghi erwartet, der ebenfalls von der EU-Kommission beauftragt wurde. Draghi war von November 2011 bis Oktober 2019 Präsident der Europäischen Zentralbank und von Februar 2021 bis Oktober 2022 italienischer Premier.
Europa verliert wirtschaftlich an Gewicht
Zunächst weist der Bericht darauf hin, dass die EU als Markt global betrachtet massiv an Gewicht verliert und bringt dazu eine Vergleich mit den USA: „Im Jahr 1993 hatten die beiden Wirtschaftsräume eine vergleichbare Größe. Während jedoch das Pro-Kopf-BIP in den USA von 1993 bis 2022 um fast 60 % zunahm, betrug der Anstieg in Europa weniger als 30 %.“
Der grundsätzliche Erfolg der EU begründe sich im Kern auf Freihandel und Offenheit gegenüber internationalen Partnern, schreibt Letta und kommt zu dem Schluss: „Kriege und Handelskonflikte untergraben jedoch zunehmend die Grundsätze eines auf Regeln basierenden internationalen Systems und stellen eine erhebliche Bedrohung für das Fundament dar, auf dem die EU ihre Außenbeziehungen und ihre Politik aufgebaut hat“.
Hürden bei Energie, Finanz und Telekommunikation abbauen
Hinzu komme, dass der Binnenmarkt bisher drei sehr wesentliche Bereiche ausspare: Finanz, Telekommunikation und Energie. Gleichzeitig sei Infrastruktur nach wie vor ein sehr national gedachtes Thema. Letta bringt im Bericht und auch bei Terminen seiner Präsentationstour, die ihn Anfang Mai auch nach Wien führte, gerne das Beispiel der schlechten Bahnverbindungen: „Auf dieser Reise habe ich auch das größte Paradoxon der EU-Infrastruktur hautnah erlebt: die Unmöglichkeit, mit einem Hochgeschwindigkeitszug zwischen europäischen Hauptstädten zu reisen“. Der größte Teil des Reports beschäftigt sich genau mit dieser weiteren Integration des europäischen Binnenmarkts in den Bereichen Energie, Telekommunikation, Infrastruktur und Telekommunikation.
Energie war für die erste große Ausgestaltung des Binnenmarkts 1992 noch kein zentrales Thema. Das hat sich nun radikal geändert und ist zu einem Grundpfeiler des Binnenmarkts geworden. Die Reaktion auf die Energiekrise infolge des russischen Angriffskriegs sei gut gewesen, dennoch dürfe man die Effekte der Krise, die nach wie vor spürbar sind, nicht ignorieren, so Letta. Neben den nach wie vor vergleichsweise hohen Preisen, gilt das vor allem für die Abhängigkeit von Importen. „Die mangelnde Unabhängigkeit des Kontinents bei der Energieversorgung erhöht auch seine Anfälligkeit für plötzliche Preisschocks. … Allein im Jahr 2022 beliefen sich die Kosten für die Einfuhr fossiler Brennstoffe in Europa auf 640 Milliarden Euro, was etwa 4,1 % des BIP entspricht. Im Jahr 2023 lag sie selbst bei niedrigeren Preisen noch bei 2,4 % des BIP der EU“, heißt es in dem Report.
Letta pocht auf eine stärkere Marktintegration: „Kein einzelner Mitgliedstaat kann mit den USA bei den Gas- oder Ölpreisen konkurrieren, da die USA der weltweit größte Produzent fossiler Brennstoffe sind. Auch kann Europa gewisse Möglichkeiten, die Chinas staatlich kontrollierte Wirtschaft bietet, nicht kopieren. Aber die EU verfügt über einen kontinentalen Energiemarkt, der durch einen modernen, ausgefeilten Regulierungsrahmen vereint ist, der weltweit seinesgleichen sucht“. Grundlage dafür sei eine Netzinfrastruktur, die einen möglichst reibungslosen grenzüberschreitenden Transport von Elektrizität ermöglicht. Auch große Projekte für Erneuerbare Energie sollen gemeinsam umgesetzt werden.
Für grenzüberschreitende Energie-Infrastruktur-Projekte seien die entsprechenden Förderprogramme derzeit allerdings unterdimensioniert. Um Projekte schneller finanzieren und umsetzen zu können, empfiehlt Letta sich an den Prozessen des Inflation Reduction Acts (IRA) der USA zu orientieren. Die unterschiedlichen Förderschienen sollen vereinfacht und harmonisiert werden und von einer zentralen Stelle wie einer „Clean Energy Delivery Agency“ betreut und abgewickelt werden. Um im Energiebereich eine gewisse strategische Unabhängigkeit zu erlangen und zu sichern, setzt Letta auf Investitionskontrollen für kritische Infrastruktur und die Entwicklung neuer Strategien für kritische Rohstoffe für die Energiewende.
Letta will nationale Fördermittel für EU-weite Initiativen
Einen Knackpunkt sieht Letta in der Finanzierung. Die EU müsse sich darauf konzentrieren, die Finanzierung der großen Chancenfelder der Zukunft auf breite Beine zu stellen: die grüne und digitale Transformation, die Erweiterung der Europäischen Union um neue Mitglieder und die Sicherheit. Der Report schlägt einen Vollausbau der Kapitalmarktunion vor, wartet aber auch mit einer Debatte zu staatlichen Hilfen auf. In den vergangenen Monaten und Jahren haben die Mitgliedsstaaten auf diverse Krisen wie Pandemie und Energiekrise teilweise mit massiven finanziellen Hilfspaketen reagiert und sich die Kritik eingehandelt, einen innereuropäischen Wettlauf der Subventionen zu befeuern, in dem kleinere Länder notwendigerweise den Kürzeren ziehen.
Letta schlägt hier neue Regeln vor und will Mitgliedsstaaten auch dazu verpflichten, einen Teil der nationalen Mittel für die Finanzierung europaweit gesteuerter Initiativen bereitzustellen. Darüber hinaus empfiehlt der Bericht dringend Maßnahmen gegen die Fragmentierung im Bereich der Steuern und nationaler Regularien, die eine große Hürde für kleinere und mittlere Unternehmen darstellen. „Angesichts des grenzüberschreitenden Charakters von aggressiver Steuerplanung, Steuervermeidung und Steuerhinterziehung muss die Europäische Union handeln, um gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen den Mitgliedstaaten und für die europäischen Steuerzahler zu schaffen“, steht dazu in dem Bericht.
Privates Kapital mobilisieren, statt in die USA „umleiten“
In erster Linie müsse es der EU aber gelingen, mehr privates Kapital zu mobilisieren. „Die Europäische Union verfügt über beachtliche 33 Billionen Euro an privaten Ersparnissen, die überwiegend auf Girokonten liegen (34,1 %). Dieser Vermögen wird jedoch nicht in vollem Umfang zur Deckung des strategischen Bedarfs der EU genutzt. Ein besorgniserregender Trend ist die jährliche Umleitung europäischer Mittel in die amerikanische Wirtschaft und zu US-Vermögensverwaltern. Dieses Phänomen unterstreicht eine erhebliche Ineffizienz bei der Nutzung der Spareinlagen in der EU, die bei einer wirksamen Umlenkung innerhalb der eigenen Volkswirtschaften wesentlich zur Erreichung der strategischen Ziele der EU beitragen könnten“, heißt es im Letta-Bericht, in dem steuerliche Begünstigungen für Investments in den European Long-Term Investment Fund (ELTIF) vorgeschlagen werden. Für strategisch wichtige Deep-Tech-Startups, die einen hohen Finanzierungsbedarf haben, soll eine eigene europäische Börse geschaffen werden, die EU Deep Tech Stock Exchange. Um schließlich auch im Payment-Bereich unabhängig von internationalen Player zu sein, drängt Letta auf die Umsetzung des Digitalen Euro bis spätestens 2027.
Um die Innovationskraft Europa zu stärken will Letta ebenfalls auf eine stärkere europäische Integration setzen. Konkret soll es eine zentrale digitale Plattform für den Zugang zu Forschungsergebnissen, Daten und Wissen geben, ein „European Knowledge Commons“. Der freie Austausch im Bereich Forschung und Innovation soll die fünfte Freiheit nach dem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Menschen und Kapital werden. Um diese Zusammenarbeit bereits im Bildungsbereich zu verankern, schlägt Letta ein verpflichtendes „Erasmus“-Programm für Schüler vor.
Weniger Bürokratie
Auch auf den von Unternehmen und wirtschaftsnahen Instituten und Organisationen zunehmend kritisierten bürokratischen Aufwand durch eine wachsende Zahl komplexer Regularien, geht der Bericht ein. Grundsätzlich sei alleine durch die Überarbeitung vorhandener Regularien Effizienzgewinne im Umfang von is zu 700 Milliarden Euro bis 2030 möglich. Gleichzeitig gelte es, die Praxis des „Gold Platings“ einzudämmen – die Übererfüllung von EU-Vorgaben in der nationalen Umsetzung bringe nicht nur zusätzliche Hürden für kleinere und Mittlere Unternehmen sondern eine stärkere Fragmentierung des Binnenmarkts.
Hier geht es zum Download des „Letta-Berichts“
„Much more than a Market – Empowering the Single Market to deliver a sustainable future and prosperity for all EU Citizens“ von Enrico Letta, April 2024. DOWNLOAD (PDF)