Wir dürfen die jungen Männer nicht zurücklassen!

14. November 2024Lesezeit: 3 Min.
Sara Grasel Illustration
Kommentar von Sara Grasel

Sara Grasel ist Chefredakteurin von Selektiv. Sie ist seit fast 20 Jahren Wirtschaftsjournalistin mit Stationen bei „Die Presse“, Trending Topics und brutkasten. Zuletzt war sie Chefredakteurin der Magazine der Industriellenvereinigung.

Kein Frauentag ohne Ruf nach einem Männertag. Gibt es übrigens und er ist bald. Noch früher ist aber der Boys’ Day dran, der ist nämlich heute. Die österreichische Erfindung ist dem Sozialministerium zu verdanken und nein, es geht nicht darum, männliche Stärken und Errungenschaften zu feiern. Es geht vielmehr darum, junge Burschen möglichst früh für weiblich dominierte Berufsbilder zu erwärmen. „IT-Techniker ist cool – Pflegeassistent auch!“, steht in der Broschüre zur Information für Lehrer. Quasi die Gegenbewegung zu „Frauen in die Technik“. Mal abgesehen davon, ob man sich das gegenseitige Umerziehungsprogramm unter dem Deckmantel des Arbeitskräftemangels dann nicht gleich sparen könnte: Ein „Boys’ Day“ wäre vielleicht ein guter Tag, darüber nachzudenken, was der erbitterte Kampf gegen das Patriarchat mit der Identitätsfindung junger Burschen macht. 

Was bedeutet es für das Selbstwertgefühl, wenn Männer medial praktisch täglich als Problem für die Gesellschaft thematisiert werden: männliche Gewalt, männliche Diktatoren, zu männliche CEOs, die zu viel Geld verdienen, männliche Übergriffigkeit, männliche Drogen- und Alkoholprobleme? Vieles davon mag statistisch nachweisbar sein, die Frage ist aber, wie man damit umgeht. Statt einer gebetsmühlenartigen Verteufelung, braucht es starke männliche Vorbilder, die Werte wie Toleranz, Solidarität und Respekt vorleben – die aber auch zeigen, dass man sich nicht entschuldigen muss, wenn man eine Karriere entlang von Geschlechterklischees verfolgt und wenn man für seine Familie da ist (wie genau man das tut, kann und sollte ja jeder selbst entscheiden).

Noch ist es nicht gerade ein eindeutiges Bild, aber es gibt erste Hinweise, dass junge Männer zunehmend zurückfallen. In Deutschland ist zum Beispiel aufgefallen, dass es immer mehr junge Menschen gibt, die kein Abitur oder Abschluss einer Berufsschule haben – und dass Burschen stärker davon betroffen sind als Mädchen. 2016 gab es laut OECD noch keinen Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern, 2023 waren 18 Prozent der jungen Männer ohne Abschluss im Sekundarbereich II und 15 Prozent der jungen Frauen. In Österreich hat sich das Verhältnis umgekehrt: 2016 war der Anteil der Mädchen ohne Matura oder Berufsschulabschluss höher, 2023 war der Anteil schließlich bei den Burschen höher. Je niedriger das Bildungsniveau, desto schwieriger wird es – trotz Arbeitskräftemangel – einen Job zu finden. NEET, sagt man in englischer Fachsprache: not in education, employment or training. In Großbritannien ist die Zahl der NEETs unter jungen Männern stark angestiegen. 2020 hatte sich der Gender-Gap in diesem Bereich geschlossen und im August 2024 lag die Rate der 18-24-jährigen männlichen NEETs bei 18 Prozent, bei Frauen waren es 13 Prozent. 

Gleichstellungsprogramme für die berufliche Zukunft junger Menschen sind darauf nicht unbedingt die richtige Antwort. Das Gender-equality paradox beschreibt darüber hinaus übrigens ein interessantes Phänomen: Frauen wählen vor allem in unfreien Gesellschaften technische Berufe. Norwegen ist in diversen Gender-Rankings regelmäßig in den Top 5. Dennoch waren 2022 in technischen Studiengängen rund 70 Prozent Männer inskribiert und umgekehrt bei Lehramtsstudien rund 70 Prozent Frauen. Die höchste Frauenquote in STEM-Studien (science, technology, engineering, mathematics) gibt es in Ländern wie Iran (70 Prozent), Algerien (58 Prozent) oder der Mongolei (57 Prozent). 

In Norwegen hat man die Herausforderung offenbar erkannt und 2022 im Parlament eine eigene Männerkommission eingerichtet, die sich mit der spezifischen Lebensrealität junger Männer auseinandersetzt und Empfehlungen formuliert. In Österreich wird stattdessen ein Boys’ Day geschaffen, um „bestehende Männlichkeitsbilder zu hinterfragen“. 

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