Wie wird man eigentlich Astronautin?
Carmen Possnig ist Medizinerin, Wissenschaftlerin, Autorin und Reserveastronautin der Europäischen Weltraumorganisation. Derzeit erforscht sie an der Universität Innsbruck die Auswirkungen von Schwerelosigkeit auf den Menschen, mit dem Ziel, Astronauten auf Mond- und Marsmissionen gesund und fit zu halten.
Die Europäische Weltraumorganisation ESA hatte bei ihrem letzten Auswahlverfahren für Astronauten 2021 mehr als 22.500 Bewerberinnen und Bewerber. Daraus gingen fünf Berufsastronautinnen und -Astronauten hervor und elf Mitglieder der Astronautenreserve. Ich bin eine der elf.
Tatsächlich kann man sich für diesen Beruf nicht einfach so bewerben: Man muss ein offizielles Auswahlverfahren abwarten. Je nach Weltraumorganisation kann das eine sehr lange Wartezeit bedeuten. Während die NASA alle paar Jahre neue Weltraumreisende (die US-Amerikaner sein müssen) ernennt, hat die Europäische Weltraumorganisation ESA bisher nur vier Mal nach Astronauten gesucht, zuletzt 1977, 1991, 2008, und schließlich 2021.
Astronautin zu werden war der intensivste meiner Kindheitsträume – und der, der mich am stärksten beeinflusst hat. Er hat meine Leidenschaft für Entdeckungsreisen, ferne Welten, und die Erforschung des Unbekannten geweckt. Noch vor der Einschreibung zum Medizinstudium habe ich vorsichtshalber nachgesehen, ob es je einen ESA-Astronauten mit medizinischem Hintergrund gegeben hat. Man weiß ja nie. Natürlich ist das ein sehr ungewisser Traum, es gibt einfach nicht sehr viele Plätze in so einem Raumschiff, aber dennoch ist er immer irgendwo in meinem Hinterkopf geblieben. Während meiner Ausbildung und diversen Forschungsexpeditionen habe ich immer mehr Menschen getroffen, die „AstronautIn“ tatsächlich als realistischen Berufswunsch äußerten. Irgendwann dachte ich mir dann: Wenn die vorhaben sich zu bewerben, warum nicht ich auch?
Jahrelang kursierten Gerüchte, dass ein ESA-Auswahlverfahren näher rückt. Jede Unterhaltung über Weltraumforschung enthielt verlässlich einen Moment, in dem jemand selbstbewusst verlautbart: „Dieses Jahr!“ Jedes Jahr wieder dachte ich mir: Bitte noch nicht. Es ist zu früh. Ich habe noch nicht genug Erfahrungen gesammelt, mein Doktoratsstudium noch nicht beendet, gehe nicht regelmäßig genug joggen. Trotz aller Gerüchte kam die Ankündigung dann wie aus dem Nichts: Im März 2021 sucht die ESA zum ersten Mal seit 13 Jahren wieder neue Astronauten. Ich war gerade Probandin in einer Schlafstudie, als mich ein Freund anrief und durchs Telefon schrie „Es ist soweit!“. Vor lauter Aufregung konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen, was die Studiendaten ziemlich durcheinander brachte.
Die Voraussetzungen
Die Grundvoraussetzungen für eine Bewerbung sind überschaubar: ein Masterabschluss in einem naturwissenschaftlichen Fach, ein paar Jahre Arbeitserfahrung, gute Englischkenntnisse. Alles, was darüber hinausgeht, ist ein Plus. Wie sich schnell herausstellte, fasziniert das Weltall ziemlich viele Menschen: mehr als 22.500 Bewerbungen aus ganz Europa gingen bei der ESA ein. Mehr, als jemals zuvor bei einer Astronautenauswahl.
Das Auswahlverfahren der ESA bestand aus insgesamt sechs Teilen. Teil 1 konnte man von zuhause aus erledigen. Gefragt waren das Ausfüllen eines Fragebogens (Haben Sie einen Tauchschein? Sind Sie handwerklich begabt? Wie oft mussten Sie durch Teamwork schwierige Herausforderungen meistern?), sowie das Hochladen eines Motivationsschreibens und des Lebenslaufs. Bei jedem Teil werden weniger Kandidaten weiterkommen, bis am Ende aus 22.500 nur mehr 17 übrig sein werden.
Mein Lieblingstest
Mein Motivationsschreiben war offensichtlich zufriedenstellend und so konnte ich ein paar Monate später zum zweiten Teil aufbrechen. Dieser fand in Hamburg statt und bestand aus kognitiven Tests. 20 Bewerber sitzen in einem Raum, vor jedem ein Computer, und darauf verschiedene Aufgaben: Muster erkennen, Gedächtnisleistung erfassen, Kopfrechnen, Multitasking, Physik, Englischkenntnisse, Feinmotorik. Mein Lieblingstest: Eine Stimme nennt Zahlen zwischen 0 und 9, irgendwann stoppt sie (man weiß vorher nicht, ob bereits nach 10 Sekunden oder erst nach drei Minuten). Sobald es still wird, sind die Zahlen in umgekehrter Reihenfolge aufzuschreiben – je mehr, desto besser. Wochen danach träumte ich noch davon. Zu diesem Zeitpunkt bin ich bereits begeistert: ich treffe so viele neue Menschen, aus verschiedensten beruflichen Hintergründen, die alle eines gemeinsam haben: die Leidenschaft für das Weltall. Besonders gut verstehe ich mich mit der Italienerin Anthea (eine Raumfahrtsingenieurin) und dem Franzosen Arnaud (ein Testingenieur und Pilot der französischen Armee). Wir bleiben in Kontakt, was gut ist, denn nach weiteren drei Monaten Wartezeit wissen wir: wir sind einen Schritt weiter, und zu Teil 3 eingeladen. Dieser dreht sich um psychologische Tests und dafür trainieren wir gemeinsam verschiedenste online verfügbare Teamworkübungen.
Teil 3 findet am europäischen Astronautenzentrum in Köln statt und jeweils acht Kandidaten sind pro Tag anwesend. Einen ganzen Tag lang füllen wir Persönlichkeitstests aus, werden von Psychologen und Astronauten interviewt, müssen in einer Kleingruppe Aufgaben lösen und werden dabei beobachtet. Wie verhalten wir uns unter Stress? Wie effizient – und freundlich – kommunizieren wir unter Druck? Was tun wir, wenn wir die Aufgabe nicht lösen können? Werden wir egoistisch, oder versuchen wir, die anderen trotzdem zu unterstützen? Ist uns bewusst, dass ein Flug ins Weltall risikoreich ist? Astronauten müssen monatelang in kleinen Raumstationen in einer internationalen Crew zusammenleben und arbeiten. Auf das Wohl des Teams zu achten ist enorm wichtig. Man möchte Kandidaten, die zugeben, wenn sie etwas nicht verstehen, die resilient sind gegenüber Stress und für einander da sind wenn nötig. Ich fand diesen Schritt sehr angenehm, wir hatten während der Tests oft Grund zu lachen und den Tag mit den anderen Kandidaten zu verbringen der beste Teil davon.
Astronauten müssen durchaus auch geduldig sein, und so sind die langen Wartezeiten zwischen den Teilen zwar nicht überraschend, aber durchaus hart. Nachts wache ich auf und erinnere mich an eine Antwort, die ich in dem Interview mit dem Psychologen gegeben habe – hätte ich das anders formulieren sollen? Hat er da nicht mit dem Kopf geschüttelt? Hätte ich einen Witz weniger machen sollen?
Nach zwei Monaten – immerhin müssen 400 Bewerberinnen und Bewerber diesen Schritt abschließen – kommt die Erlösung: Ich bin eingeladen zu Teil 4, den medizinischen Tests. Diese finden in Toulouse statt, in der MEDES Space Clinic. Eine Woche lang werden acht von uns von früh bis spät durchgecheckt. Alles was man sich irgendwie vorstellen kann, wird durchleuchtet. Eine Weltraummission ist für den Körper sehr anstrengend – einerseits will die ESA also sichergehen, dass wir so gesund wie möglich sind, andererseits auch, dass wir ein möglichst geringes Risiko haben, eine weltraumtypische Erkrankung zu bekommen. Davon gibt es einige. Dieser Teil ist der erste, der richtig anstrengend ist: hier kann man sich nicht vorbereiten, und genau wissen wir nicht, wonach gesucht wird – während wir am Abend also durch die Restaurants von Toulouse ziehen, ist stets einer von uns überzeugt, wegen eines Testergebnisses hinauszufallen. Das exzellente Essen hatte dann glücklicherweise meistens eine beruhigende Wirkung.
Weitere zwei Monate warten und mitten im Urlaub kommt das Email: Ich habe auch diesen Schritt geschafft. Wie gut, dass meine Urlaubslektüre den aufregenden Titel „Die Geschichte der europäischen Raumfahrt“ trägt. Während mein Partner seltene Affenarten fotografiert liege ich also unter einem Moskitonetz im peruanischen Dschungel und mache mir Notizen zu alten Raumschiffen und Plänen einer Marsmission in den 70er-Jahren. Denn der nächste Teil sind Interviews mit Angestellten der ESA, und Hintergrundwissen wird meine Nervosität etwas im Zaum halten, hoffe ich. Tatsächlich drehen sich die Fragen dann viel um den Nutzen von Raumfahrt – ein Thema das mir leicht fällt, da ich mit meiner eigenen medizinischen Forschung direkt anknüpfen kann.
Wenn Josef Aschbacher anruft
Auch dieser Teil glückt und plötzlich geht alles sehr schnell. Das allerletzte Interview findet nur wenige Wochen danach in den ESA-Headquarters in Paris statt. Dieses Gespräch wird direkt von dem Direktor der ESA geführt – seit drei Jahren ist das Josef Aschbacher, ein gebürtiger Tiroler. Es ist kein einfaches Gespräch, aber wie in allen anderen Schritten, habe ich mich gemeinsam mit Anthea und Arnaud (die es ebenso bis hierher geschafft haben) detailliert darauf vorbereitet. Dann heißt es erneut warten. Dieses Mal ist das besonders anstrengend – jetzt im letzten Schritt hinauszufallen, wäre bitter. Dann, inzwischen ist es November 2022 und ich unterrichte gerade im Labor eine Gruppe Studenten, zeigt das Display meines Handys einen Anruf einer französischen Nummer. „Kannst du kurz übernehmen?“, rufe ich meinem Kollegen zu und laufe in die Innsbrucker Herbstluft hinaus. „Ich glaube, Sie wissen, warum ich anrufe,“ schallt Josef Aschbachers Stimme aus dem Telefon, und die Anspannung der letzten eineinhalb Jahre fällt von mir ab.
Sofort rufe ich Anthea und Arnaud an – wir haben es alle drei geschafft. Durch Teamwork haben wir während dem langen Auswahlverfahren einen (oder drei) kühle Köpfe bewahrt und das gemeinsame Trainieren ist etwas, an das ich sehr gerne zurückdenke. Während des gesamten Auswahlverfahrens hatte ich nie das Gefühl, in Konkurrenz zu den anderen Kandidaten zu stehen. Dafür war das Ziel einfach zu unwahrscheinlich, zu unerreichbar. Ich konnte so viele faszinierende Menschen kennenlernen, und oft war es schwierig zu verstehen, warum man selbst weiterkommt, andere aber ausscheiden. Es ist sicherlich auch sehr viel Glück dabei.
Wann kommt der Einsatz?
Aus den 22.500 Bewerbern bleiben also 17 übrig. Die ESA hat fünf fixe Plätze für Missionen in den nächsten Jahren und darum fünf Karriereastronauten (die direkt mit dem Training begonnen haben) ausgewählt. Erstmals wurden auch elf Reserveastronautinnen und -Astronauten ernannt, eine davon bin ich. In der Reserve zu sein heißt, dass unser Land mitmachen kann, wenn zusätzliche Missionen zur Verfügung stehen. Das hat mit meinem schwedischen Kollegen Marcus Wandt bereits sehr gut funktioniert: Schon im Jänner dieses Jahres ist er für 20 Tage zur Internationalen Raumstation geflogen. Dort hat er für Schweden intensive Forschungen und Technologietests durchgeführt, und außerdem vom Orbit aus mit unzähligen Schulkindern geplaudert.
Zusätzliche Missionen gibt es nun immer häufiger und sie sind für die Wissenschaft in Europa eine wunderbare Chance. Die Internationale Raumstation ist ein riesiges und einzigartiges Labor, und die Schwerelosigkeit ermöglicht Forschungen, die auf der Erde niemals möglich wären. Marcus Wandts schwedische Mission hat zusätzlich in Schweden ein riesiges Interesse an MINT-Fächern entfacht, das sicherlich lange anhalten wird.
Mein Traum ist es natürlich, dass auch Österreich von einer solchen Mission profitieren kann. Um Österreich als Wissenschaftsstandort zu stärken und Forschung zu intensivieren, für die Weiterentwicklung von Technologien, aber auch aufgrund der Inspiration, die eine solche Mission hervorruft. Denn ob Kinder oder Teenager, von jungen Erwachsenen bis hin zu Senioren, das Weltall begeistert alle – egal, wie lange der Kindheitstraum bereits zurückliegt.