Wie wir mit der „Sozialen Marktwirtschaft“ den Wohlstand zerstören – Teil 1

Martin Rhonheimer, geboren 1950 in Zürich, ist Präsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy (Wien). Von 1990 bis 2020 lehrte er Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. Er ist u.a. Mitglied der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft, der Ludwig-Erhard-Stiftung und der Europäischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und schreibt regelmäßig in der NZZ.
Ohne Sparen geht es nicht mehr. Das ist die bittere Einsicht der letzten Monate. Sie führte in Deutschland zum Ende der Ampelregierung und zu Neuwahlen und sie beherrscht in Österreich die Regierungsbildung. Auch die Franzosen können ein Lied davon singen, ihr (gegenwärtiger) Premierminister befindet sich wegen der noch größeren Staatverschuldung und dem weit größeren Budgetdefizit in Geiselhaft wechselnder Mehrheiten, die nur eines verbindet: nicht Sparen wollen. Neben vielen anderen erleben den Druck der Überschuldung auch die Italiener, die sich darüber allerdings keine größeren Sorgen zu machen scheinen. Immerhin haben sie eine recht stabile Regierung.
Was heißt Sparen?
Nicht ganz im Klaren ist man sich allerdings darüber, was mit „Sparen“ eigentlich gemeint ist. Heißt es, auf bestimmte Ausgaben verzichten und das nicht ausgegebene Geld auf die Seite legen, wie wir das alle – aus ganz verschiedenen Gründen – immer wieder tun (oder tun sollten)? Oder heißt sparen einfach weniger ausgeben, weniger verbrauchen, haushälterisch mit den eigenen Mitteln umgehen (so wie die vielzitierte schwäbische Hausfrau)?
In unserem Fall funktioniert beides nicht. Der Staat wird nichts „Erspartes“ auf die Seite legen können. Könnte er es, würde er es nicht wollen, denn der politische Druck, immer mehr staatlichen Wohltaten zu verteilen, ist zu groß. Geld, das der Staat einmal hat, wird verteilt bzw. ausgegeben. Aus dem gleichen Grund wird er auch nicht haushälterisch mit seinen Mitteln umgehen, also weniger ausgeben, weniger verbrauchen. Denn politisch geschaffene systemische Zwänge – man denke an das Pensionssystem – und externe Faktoren treiben die Politik dazu, immer mehr auszugeben. Die Statistiken spreche da eine eindeutige Sprache.
Wie der Wiener Think-tank Agenda Austria berechnet hat, werde man durch die nun geplanten Einsparungen das EU-Defizitverfahren gegen Österreich wohl erst einmal abwenden können. Doch kann das allein nichts daran ändern, dass die Verschuldung und auch das Budget-Defizit stetig weiter ansteigen werden. Mit den geplanten Einsparungen lässt sich die Tendenz zur stetigen Ausweitung der Staatsausgaben also nicht eindämmen.
Das Gesetz der wachsenden Staatsausgaben
Ein stetiges, im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt überproportionales Anwachsen der Staatsausgaben wurde 1890 von dem Ökonomen Adolph Wagner diagnostiziert, einem sogenannten Kathedersozialisten – so wurden die sozialpolitisch bewegten Vertreter der „Historischen Schule der Nationalökonomie“ genannt. Wagner kritisierte diesen Prozess der wachsenden Staatsausgaben keineswegs, sondern feierte ihn geradezu als unausweichliches Gesetz des modernen Staates und des mit ihm einhergehenden wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritts. Die Kathedersozialisten, allen voran Gustav Schmoller, plädierten dafür, durch staatliche Eingriffe wie Umverteilung und Sozialversicherungssysteme von oben, durch staatlichen Interventionismus also, zu erreichen, was die Sozialisten und damaligen Sozialdemokraten, die sich zum Marxismus bekannten, durch die revolutionäre Abschaffung des Kapitalismus anstrebten. Sie nannten das „Sozialpolitik“.
Die Kathedersozialisten anerkannten zwar das Fortschritts- und Produktivitätssteigerungspotential des modernen Kapitalismus, waren aber der Meinung, damit seine Früchte auch den breiten Arbeitermassen zukämen, müsse der Staat sozialpolitisch eingreifen. Sozialpolitisch begründet wurde von ihnen auch die Schutzzollpolitik und die staatliche Errichtung bzw. der rechtliche Schutz von Kartellen und Staatmonopolen (Kartelle seien Deutschlands Stolz, verkündete Schmoller). Was im Deutschen Kaiserreich begonnen hatte, wurde in der Weimarer Republik weitergetrieben.
In einem gewissen Sinne war natürlich das „Wagnersche Gesetz“ geradezu prophetisch. Es wollte allerdings nichts prophezeien, auch keine Prognose anbieten, sondern eben eine unabänderliche Gesetzmäßigkeit feststellen. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Gesetzmäßigkeit ökonomischer, sondern politischer Art. Das wiederum war typisch für die Historische Schule, der Wagner entstammte; denn so etwas wie „ökonomische Gesetze“ wurden von ihr nicht anerkannt. Wohl aber hatten die Kathedersozialisten in ihrer Staatsgläubigkeit ein feines Gespür für die Gesetzmäßigkeiten der Politik.
Auch heute wollen Politiker „gestalten“, sie wollen ihren Wählern Erfolge zeigen und Wohltaten erweisen. In einer Demokratie gilt es, Wahlen zu gewinnen. Politiker verfolgen – wie alle Menschen – ihre Interessen, das hat uns die Public-Choice-Schule gelehrt. Ein Politiker, der der Meinung ist, man müsse eine ökonomische Krise einfach aussitzen und die Marktkräfte spielen lassen – wenn auch gleichzeitig die sozialen Härten marktwirtschaftlicher Anpassungsprozesse durch staatliche Maßnahmen abfedern, nicht aber verhindern –, begeht politischen Selbstmord, verliert sein Mandat, seinen Status, seine Privilegien und oft auch das Einkommen, mit dem er sich und seine Familie ernährt. Das ökonomisch Richtige zu tun, kann deshalb oft gar nicht in seinem Interesse liegen. Das ist menschlich, es ist nicht unbedingt „böse“. Auch die Ansprüche der Bürger wachsen mit zunehmendem Wohlstand. Das Problem des stets wachsenden Staates ist auch ein Problem einer Demokratie mit ökonomisch unaufgeklärten Wählern und von ihren Einkünften und Apanagen existentiell abhängigen Politikern.
Mantra „Soziale Marktwirtschaft“
Die Menschen generell, insbesondere jedoch Wirtschaftsvertreter und Unternehmer, erwarten von der Politik, dass sie „Krisen“, die allerdings oft äußerst heilsame Anpassungsprozesse sind, verhindert, „glättet“ und, falls der Wirtschaftsmotor stottert, diesen wieder „ankurbelt“, dass dafür von den Zentralbanken neues Geld geschaffen wird und die Zinsen künstlich niedrig gehalten werden, so dass möglichst niemand zu spüren bekommt, dass eigentlich alles gerade schief läuft. In Wirklichkeit wären schmerzhafte Kuren angebracht. Doch welcher Politiker, welche politische Partei würde für so etwas einstehen wollen? Deshalb lieben sie es, sich zur Sozialen Marktwirtschaft zu bekennen, im deutschen Sprachraum das Mantra des sich als anständig, weil sozial, betrachtenden Politikers.
Was hat es mit dem Zauberwort „Soziale Marktwirtschaft“ auf sich? Ein Blick in seine Entstehung vermag Aufklärung zu bieten.
Auf dem Hintergrund der Erfahrungen der nach 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise, die man einem angeblich ungebändigten Kapitalismus in die Schuhe schob, entwarfen liberal, aber auch sozial denkende Ökonomen bereits während des Zweiten Weltkrieges, vor allem aber nach 1945, ein neues, damals als „neoliberal“ – im Sinne von reformliberal – verstandenes Konzept der Marktwirtschaft: die „Soziale Marktwirtschaft“. Sozial sollte sie sein, weil man behauptete, die Kräfte des freien Marktes, sind sie nicht vom Staat geordnet, gezügelt und gelenkt, würden automatisch zur Kartellbildung und Monopolisierung führen – eine ursprünglich marxistische These – und damit Marktwirtschaft und Wohlstand zerstören.
Deshalb sollte die „Soziale Marktwirtschaft“, wie der führende Begründer des Konzepts und Erfinder seines Namens, Alfred Müller-Armack, 1946 schrieb, eine „bewusst gesteuerte, und zwar sozial gesteuerte Marktwirtschaft sein“. Zunächst wollte der spätere Weggenosse Ludwig Erhards sein Konzept „gelenkte Marktwirtschaft“ nennen, doch sozusagen in letzter Minute vor Drucklegung seines Buches „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ (1946) habe er, wie berichtet wird, „gelenkt“ mit einem groß geschriebenen „Sozial“ ersetzt – eine strategische Meisterleistung des vor 1945 im Dienste der NS-Regierung stehenden und damals deren Vollbeschäftigungspolitik unterstützenden ehemaligen NSDAP-Mitglieds.
Mit der von Müller-Armack als „sozial“ verkauften „gelenkten Marktwirtschaft“ traten nun plötzlich Staat und Politik als Gestalter von Markt und Wettbewerb auf. Wie die späteren Verfechter des Konzepts, insbesondere die Ordoliberalen der Freiburger Schule – ihr Begründer war der den Nazis gegenüber stets ablehnende Walter Eucken – meinten, brauche es, um die Marktwirtschaft vor ihrer Degeneration zu bewahren, einen starken Staat. Nicht einen großen, sondern einen starken Staat, der entgegen dem Druck der Einzelinteressen und der Masse eine Wettbewerbsordnung und präventive Anti-Monopolpolitik durchzusetzen weiß, die erst sicherstellt, dass sich die Marktkräfte zum allgemeinen Wohl entfalten.
Unglückliche Liaison von Ordoliberalismus und Sozialer Marktwirtschaft
Die Idee war bahnbrechend und zumindest in der Theorie durchaus einleuchtend: Der starke, über den Gruppeninteressen und Einflüssen der Lobbyisten stehende Staat, sollte ein glasklares, intellektuell allerdings anspruchsvolles wettbewerbspolitisches Konzept durchsetzen und zum „Hüter des Wettbewerbs“ werden. Zudem sollte er ein Staat sein, der nur solche sozialpolitischen Steuerungselemente einsetzt, die „marktkonform“ sind, also die Mechanismen des Marktes nicht ersetzen oder in diese eingreift, sondern nur deren Rahmenbedingungen ändern, ansonsten aber die Marktkräfte frei spielen lassen. Er sollte also ein Staat sein, der von ökonomischer Fachkompetenz und Freiheitsliebe nur so strotzt, gleichzeitig aber für „sozialen Ausgleich“ sorgt.
Doch war von Anfang an unklar, welches denn die Kriterien und Ziele dieses „sozialen Ausgleichs“ sind: materielle Gleichheit? Chancengleichheit im Sinne der Gleichheit der sozio-ökonomischen Ausgangspositionen? Der ideologische Streit darüber zwischen den Parteien und in ihnen sollte nur allzu bald entbrennen. So vernünftig und im Grundprinzip zustimmungsfähig das ordnungspolitische Konzept der Freiburger war, so verhängnisvoll wurde seine Verbindung mit jenem der „Sozialen Marktwirtschaft“ Müller-Armacks.
Denn es scheint klar: Bei der „Sozialen Marktwirtschaft“ zählen nicht die Ergebnisse wettbewerblicher Marktprozesse, sondern Vorstellungen über eine gerechte Gesellschaft, die die Politik eben „sozial ausgleichend“ zu verwirklichen hat. War diese Idee einmal in den Köpfen, so wurde sie zum Fass ohne Boden. Der Staat entwickelte sich zur Großveranstaltung eines „sozialen Ausgleichs“ und schließlich zu einer Organisation sozialer Absicherung aller Lebensrisiken bis hin zur staatlich – aus Steuergeldern – subventionierten freiwilligen Arbeitslosigkeit („Bürgergeld“). Sozialleistungen aller Art und für immer wieder neue Anspruchsgruppen, die zugleich auch die erhofften Wähler von den sie umsorgenden Politikern sind, verschlingen dabei so viel Geld, dass für die eigentlichen, unverzichtbaren Staatsaufgaben nichts mehr übrig bleibt: Wir können uns nicht mehr verteidigen, die innere Sicherheit ist vielerorts gefährdet, die Infrastruktur bröckelt, das (staatliche) Bildungssystem gerät in bedrohliche Schieflage, und anderes mehr.
Teil 2 – Wie wir mit der „Sozialen Marktwirtschaft“ den Wohlstand zerstören
Diese Analyse von Martin Rhonheimer besteht aus zwei Teilen – Sie haben den ersten Teil gelesen. Der zweite Teil erscheint am 21. Februar um 7 Uhr an dieser Stelle.