Was Babler von den britischen Genossen lernen könnte

8. Juli 2024Lesezeit: 5 Min.
Kommentar von Gerhard Jelinek

Gerhard Jelinek ist ein österreichischer Journalist, Fernsehmoderator und Buchautor. Der Jurist und erfahrene Journalist gestaltete rund 70 politische und zeitgeschichtliche Dokumentationen und Porträts.

Die schlimmste Niederlage seit – jedenfalls seit 1906 – sei das gewesen: ein „Erdrutschsieg“, eine „Katastrophe“, was auch immer. Die britischen Zeitungskommentatoren suchten nach möglichst drastischen Begriffen. Tatsächlich haben die englischen Konservativen bei den vorgezogenen Unterhauswahlen vergangenen Donnerstag eine schwere Niederlage erlitten. Von ihren rund 370 Parlamentssitzen müssen sie 250 an die bisher oppositionelle Arbeiterpartei (und die Liberaldemokraten) abtreten. Labour erreicht mit knapp 35 Prozent der Stimmen beinahe eine Zweidrittel-Mehrheit im „House of Commons“.

Die strahlend siegreiche Labour-Party gewinnt also gerade mal 1,7 Prozentpunkte (bei einer drastisch gesunkenen Wahlbeteiligung, und sie erhält damit sogar rund 600.000 Stimmen weniger als bei der letzten Wahl). Ein Unterhaussitz für Labour „kostet“ rund 25.000 Stimmen, ein Mandat für die „Torys“ ist mehr als doppelt so teuer. Und während die nordirischen Unionisten mit 150.000 Stimmen fünf Abgeordnete nach Westminster senden, braucht der populistische Brexit-Agitator Nigel Farage mit seiner „Reform UK“ gleich eine Million Stimmen für ein Mandat.

Diese für Kontinentaleuropäer kaum verständliche unterschiedliche Gewichtung von Stimmen entspricht der Tradition und Praxis von Einer-Wahlkreisen. Wer in seinem Wahlkreis die relative Mehrheit erringt (und sei es um eine Stimme) zieht ins Parlament ein. Auf den britischen Inseln wird dieses Wahlrecht nicht in Frage gestellt. Tradition steht über allem. Was die Frage nach der Repräsentation des Wählerwillens aufwirft, beantwortet die Praxis. Binnen Stunden erfolgt der Regierungswechsel ohne zermürbende Koalitionsverhandlungen, üble Tauschgeschäfte und ohne verwässernde Kompromisse. Zwischen Rücktritt des Vorgängers und Amtsantritt des Nachfolgers liegen nur zwei kurze Besuche beim König.

Ein genauerer Blick auf die Verteilung der Wählerstimmen verändert das Bild. Der tatsächliche Erdrutsch ereignete sich nicht zwischen Links und Rechts (so unscharf diese Begriffe sein mögen), sondern passierte innerhalb des irgendwie bürgerlichen Lagers. Nigel Farage, der angeblich charismatische, jedenfalls aber gnadenlos populistische Brexit-Antreiber sammelt mit seiner neuen Partei „Reform UK“ mehr als vier Millionen Stimmen und zertrümmert damit die konservative Mehrheit in Großbritannien, ohne irgendetwas zu erreichen.

Seinem Ego wird die Rolle gefallen. Nicht unähnlich der heimischen FPÖ definiert Farage sein Wahlvehikel als „Bewegung“ und bleibt die Antwort schuldig, wohin er sich denn bewegen will.

Nach jahrelangen innerparteilichen Fraktionskämpfen, Affären, Skandalen, Intrigen, einer Covid-Krise und den Brexit-Nachwirkungen waren die britischen Wähler erschöpft, hatten die Eskapaden verhaltensorigineller Politiker satt. Sie wählten aus Verärgerung, sie wollten den Wechsel: „Change“. Ob etwas Besseres nachkommt, ist jetzt nicht die Frage. Was Neues war die Antwort.

England (eigentlich ein Drittel der Wähler) hat sich für das vermutet Berechenbare entschieden und damit für den weitgehend unideologischen Labour-Führer Keir Starmer. Der Jurist hat die Arbeiterpartei durch vorsichtiges Taktieren, wenige Festlegungen und mit dem Versprechen, einen „Wandel“ zu verwalten, in die Downing Street 10 gebracht. Nach dem linksradikalen Parteichef Jeremy Corbyn, der bei seiner krachenden Niederlage gegen den schillernden Boris Johnson übrigens deutlich mehr Stimmen als Starmer erhielt, rückt Labour wieder in die Mitte: Kein Exit vom Brexit, kaum linke Besteuerungsfantasien.

SPÖ-Chef Babler beeilte sich zwar, Starmer via Twitter zu gratulieren, deutete aber nicht an, dass er es dem Briten nachmachen wolle. Denn Starmer will vor allem Englands Wettbewerbsfähigkeit stärken, die Wirtschaft ankurbeln und das ausufernde Defizit in den Griff bekommen. Aufgaben, die auch eine neue österreichische Regierung bewältigen muss, wie jeder weiß, aber keiner vor dem 29. September sagen wird.

Nehammer – ein sozialdemokratischer Konservativer

Was lernen wir aus den britischen (und französischen) Wahlen? Der Typus Starmer ist dem Typus Karl Nehammer nicht unähnlich. Beide sind redliche, kaum charismatische Administratoren der Politik. Starmer ein konservativer Sozialdemokrat, Nehammer ein sozialdemokratischer Konservativer. Beide agieren vorsichtig, von beiden sind keine himmelstürmenden Zukunftsvisionen bekannt. Vielleicht ist das das Erfolgsrezept der Zeit. Vielleicht ist das auch gut so. Charismatische Persönlichkeiten nutzen sich recht rasch ab. In Frankreich hat das Emmanuel Macron am vergangenen Sonntag erlebt. Seine „Bewegung“ wurde marginalisiert.

Der neue Premier Keir Starmer ist das Gegenteil von FPÖ-Chef Herbert Kickl. Dessen „Bewegung“ lebt von Polarisierung und Aufregung, Nationalismus und Abgrenzung. Dabei ist Kickl sicher kein Exzentriker wie Nigel Farage, aber das Etikett „Nationalpopulist“ passt auch für den Kärntner Oppositionsführer. Wenn es wirklich eine neue Grundströmung Richtung solide Mitte, Politik als Handwerk und als Mittel zur Problemlösung gibt, könnte sich Bundeskanzler Nehammer über den Sommer weiter stabilisieren. Auch die politische Stimmungslage des Wahlvolks ist Strömungen unterworfen.

So schrill (und schräg) uns Kontinentaleuropäern die englische Politik manchmal erscheinen mag, sie hat schon ihre noblen Seiten. Der abgewählte Premier Rishi Sunak fand nach der Niederlage zu Größe. Er übernahm Verantwortung und entschuldigte sich beim britischen Volk. Seinem Nachfolger streute er Blumen: „Sein Erfolg wird unser aller Erfolg sein, ungeachtet aller Differenzen im Wahlkampf, Keir Starmer ist ein ehrlicher Mann, den ich respektiere.“

Und der konservative Finanzminister Jeremy Hunt ergänzte: „Wir haben das unglaubliche Glück, in einem Land zu leben, in dem Machtwechsel nicht mit Bomben und Granaten, sondern mit Millionen von Wahlzetteln entschieden werden. Das ist die Magie der Demokratie.“

Damit hat Jeremy Hunt einfach recht. Das abgehobene „Britannia rules“ gilt schon lange nicht mehr, aber solche Einstellung zum demokratischen Wandel verdient Respekt – und Nachahmung.

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