Schuldenberge: Die Legende vom Sozialstaat, der Wohlstand schafft
Martin Rhonheimer, geboren 1950 in Zürich, ist Präsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy (Wien). Von 1990 bis 2020 lehrte er Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. Er ist u.a. Mitglied der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft, der Ludwig-Erhard-Stiftung und der Europäischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und schreibt regelmäßig in der NZZ.
In seinem 2012 erschienenen Buch „Der Niedergang des Westens“ schrieb der britische Historiker Niall Ferguson, Symptom des westlichen Niedergangs seien „die riesigen Schulden, die wir in den letzten Jahrzehnten angehäuft haben und die nicht wie in der Vergangenheit kriegsbedingt sind“. Zwölf Jahre später gilt das Gesagte natürlich in noch weit höherem Maße.
Das neue Phänomen: Strukturelle Überschuldung
Die Geschichte der letzten zweihundert Jahre zeigt: Übermäßige Staatschulden gab es immer wieder – zumeist als Folge von Kriegen. Die Schulden wurden in Friedenszeiten wieder abgebaut und auch der Staatshaushalt normalisierte sich. Möglich war das, weil die Staaten relativ schlank waren, Steuerbelastung und Staatsquoten waren gering und die Staaten hatten hohe fiskalische Flexibilität. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachten die USA ihre enorm hohen Staatsschulden teils mit finanzieller Repression – Niedrigzinspolitik –, vor allem aber mit einem erneuten, enorm dynamischen wirtschaftlichen Aufschwung zum Verschwinden.
Heute jedoch sind die USA weit höher verschuldet als nach dem Zweiten Weltkrieg, und dies, ohne dass sie einen großen Krieg hinter sich hätten. Die Überschuldung ist struktureller Art. Der Sozialstaat, den es auch in den USA gibt – staatliche Sozialprogramme wie Medicare, Medicaid usw. –, hat es möglich gemacht. Berücksichtigt man zudem, wie man unbedingt sollte, die impliziten Staatschulden, d.h. die finanziellen Verpflichtungen des staatlichen Sozialversicherungssystems gegenüber seinen Bürgern, dann sind sie in Wirklichkeit noch viel höher.
Gefräßiger Sozialstaat
Strukturelle Überschuldung infolge des Sozialstaates gibt es natürlich nicht nur in den USA, die allerdings im Unterschied zu den Staaten Europas auch enorm hohe Verteidigungsausgaben schultern. In Deutschland – der „Lokomotive Europas“ – betragen die für 2024 budgetierten Sozialausgaben des Bundes 54,3 Prozent der Gesamtausgaben, die Verteidigungsausgaben sind im Vergleich lächerlich gering. Die gesamten Sozialleistungen während der letzten 20 Jahre belaufen sich in Deutschland auf etwa 30 Prozent der wirtschaftlichen Jahresleistung. Die offiziellen, d.h. statistisch ausgewiesenen Staatsschulden des Landes betragen zwar nur etwas über 60 Prozent des BIPs, befinden sich aber gemäß den Maastricht-Kriterien bereits über der erlaubten Grenze. Rechnet man jedoch die impliziten Staatschulden – die finanziellen Verpflichtungen gegenüber den Bürgern – mit ein, dann belaufen sie sich nach Schätzungen von Experten auf weit über 400 Prozent des BIPs!
Auch in Österreich wächst der Sozialstaat beständig und die Pensionen müssen zunehmend aus Steuergeldern bezuschusst werden, da die Umlagefinanzierung aufgrund des demographischen Absturzes nicht mehr funktioniert. Auch hier ist der Staat, was seine Verpflichtungen gegenüber den Bürgern betrifft, in Wirklichkeit, d.h. langfristig betrachtet, schon längst zahlungsunfähig. Und die Staatsverschuldung steigt kontinuierlich – im Moment ist sie bei 79,7 Prozent des BIPs angelangt!
Falsche Anreize und gekündigter Generationenvertrag
Wie konnte es dazu kommen? Zum einen, weil das sozialstaatliche System selbst falsche Anreize setzt. Das wurde bezüglich des umlagefinanzierten Pensionssystems in Deutschland bereits 2005 in einem Gutachten des damaligen Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit (BMWA) ausgesprochen. Wie das Gutachten festhielt, „verringert die Umlagerente zugleich die Anreize, selbst Kinder zur Welt zu bringen und aufzuziehen.“ Denn man erwirbt „einen Rentenanspruch schon dann, wenn man auf dem Wege der Beitragszahlung die Generation seiner Eltern finanziert. Dass man selbst Kinder hat, ist nicht wichtig. Ohne Kinder kollabiert jedoch das Umlagesystem.“
So gilt, was Ferguson vor zwölf Jahren schrieb, heute in vermehrtem Maße, dass nämlich „Staatschulden es der gegenwärtigen Generation von Wählern erlauben, auf Kosten derjenigen zu leben, die zum Wählen noch zu jung oder noch gar nicht geboren sind“. Der Generationenvertrag, der einst unseren sozialstaatlichen Sicherungssystemen zugrunde lag, ist Makulatur geworden. Spätere Generationen werden zur Kasse gebeten. Trotz zu erwartender wohlstandsteigernder technologischer Innovationen werden sie die Rechnung für unser unverantwortliches Treiben einst mit höheren Steuern und verringertem Lebensstandard begleichen müssen. Das ist doppelt unfair, denn auch wir sind ja schließlich Nutznießer früherer Generationen!
Strukturelle Schulden sind Staatsschulden, die nicht einfach wieder abgebaut werden können. Sie sind Teil unserer Sozialsysteme geworden. Ein Rückbau des Sozialstaates scheint angesichts des grassierenden Rechts- und Linkspopulismus mit seinen die Wähler umschmeichelnden sozialen Wahlversprechen politisch undenkbar. Soziale, politische und vor allem wirtschaftliche Verwerfungen sind deshalb vorgeplant. Genau besehen ist das eine Bankrotterklärung des Sozialstaates in seiner jetzigen Form.
Wird auch bei uns die Kettensäge kommen müssen?
Dass die Notwendigkeiten für eine Besserung offenbar den Denkhorizont der meisten übersteigt, zeigen die Reaktionen in den meisten deutschsprachigen Medien auf die Politik des argentinischen Präsidenten Milei, der zur Rettung der Währung und für die Schaffung der Grundlagen für einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung ein Land am Rande des Abgrundes einer Hyperinflation nun durch den radikalen Umbau des Staates – unter anderem die Reduzierung der 18 Ministerien auf die Hälfte – reformieren muss.
Seine Gegner sind die durch das bisherige System Begünstigten, die privilegierten Heerscharen von Staatsangestellten und Bürokraten, die das durch den exzessiven Wohlfahrtsstaat verursachte Elend verwalteten und nun um ihre Pfründe gebracht werden, die Gewerkschaften auch – vor allem jene der Lehrer –, die sich durch ihre Macht Einfluss und finanzielle Absicherung auf Kosten der Allgemeinheit verschafften. Jene jedoch, die Milei wählten und ihn auch heute noch unterstützen, sind ganz besonders junge und wenig vermögende Menschen, die nicht wie die Reichen auswandern können, sondern bleiben und arbeiten wollen und denen deshalb allein die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in ihrem Land übrig bleibt. Die Ungerechtigkeit gegenüber den Jüngeren, die bei uns noch mit hohlen Phrasen von „sozialer Gerechtigkeit“ verdeckt wird, ist dort bereits offenkundig geworden und half damit der „Kettensäge“ zum Erfolg.
Erst wenn der Leidensdruck so groß ist, wird offenbar ein echter politischer Umschwung möglich. In Europa fehlen sowohl Leidensdruck wie die Einsicht, dass es so auf die Dauer nicht weitergehen kann, will man das Schlimmste vermeiden.
Beunruhigend ist vor allem: Mit unseren hoffnungslos strukturell überschuldeten Staaten befinden wir uns nicht am Ende eines Krieges, sondern am Ende einer achtzigjährigen Friedensepoche. Was uns jedoch erwartet, sind verschärfte geopolitische Auseinandersetzungen. Vor allem aber, auch wenn es noch nicht alle gemerkt haben: in Europa herrscht Krieg. Und das bringt – ganz abgesehen von der Sorge um das Klima – ganz neue Herausforderungen finanzieller bzw. fiskalischer Natur mit sich. Staaten werden zunehmend in die Verteidigung, also die militärische Aufrüstung investieren müssen. Die finanziellen Herausforderungen sind gewaltig, denn es wird nicht nur darum gehen, vernachlässigte Investitionen nachzuholen, sondern sich auf ganz neue und überaus kostspielige Arten der Kriegsführung wie Cyber- und Drohnenkrieg und damit auch auf neue Formen der Verteidigung einzustellen – und diese zu finanzieren, ohne damit unsere Währung zu zerstören. Das kann nur mit Einschränkungen in anderen Bereichen gehen. Fiskalische Spielräume existieren keine mehr.
Die Legende vom wohlstandsschaffenden Sozialstaat
Das alles wird zwar unsere Sicherheit, aber wohl kaum unseren Wohlstand mehren. Aber es wird geeignet sein, ihn zu erhalten. Denn wer den Krieg und seine wohlstandszerstörenden und unmenschlichen Folgen abwenden will – so die bekannte alte Weisheit –, muss sich auf den Krieg vorbereiten. Das gehört zu den genuinsten Staatsaufgaben – auch neutraler Länder. Sie ist ebenso wichtig wie der Schutz der bürgerlichen Grundrechte, der Freiheit und vor allem des Privateigentums, vereint mit der Pflege der rechtsstaatlichen Institutionen, die dafür nötig sind. Das, wie auch die Sicherheit im Innern und vor allem gegen außen zu garantieren, sind die Kernaufgaben des Staates. Dieses Staatsverständnis, nicht das des heutigen Sozialstaates, war die Grundlage für den wirtschaftlichen und sozialen Erfolg des kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Westen seit der industriellen Revolution.
Doch führte die Legende – das Narrativ ist nachweislich falsch –, der Kapitalismus hätte im 19. Jahrhundert nur den Reichen genützt, der moderne Massenwohlstand sei in Wirklichkeit den Gewerkschaften und der Sozialpolitik zu verdanken, mit der Zeit zu immer neuen Rechtfertigungen dafür, die eigentliche Aufgabe des Staates umzudeuten. Freiheit gebe es erst, wenn dafür auch die materiellen Grundlagen geschaffen seien, so hieß es, und gleiche Freiheit für alle sei nur dann verwirklicht, wenn es auch möglichst gleiche materielle Ausgangspositionen für alle gibt. So legitimierte sich der moderne Sozialstaat zunehmend als umverteilender Wohlfahrtsstaat.
Der Staat, der für Freiheit und Sicherheit seiner Bürger sorgen sollte, wurde nun – in Abkehr vom Prinzip der Subsidiarität und der Selbstverantwortung – zum fürsorglichen Staat. Mit der Einführung eines neuen Armutskonzepts, das Armut als „relative Armut“ definierte, gelang es, trotz ständig steigenden Lebensstandards, den prozentualen Anteil der Armut konstant zu halten und damit der aus Steuergeldern finanzierten Sozialbürokratie immer neue Pfründe zu erschließen, sie auf diese Weise beständig auszuweiten und immer mehr Menschen von ihr abhängig zu machen. All das freilich mit den besten Absichten. Diese sind (fast) immer gut.
Den Regierungen bleibt deshalb nichts übrig, als immer mehr Schulden anzuhäufen, was am Ende – wie in Argentinien – zu immer höherer Inflation, also zur beständigen Verminderung der Kaufkraft des Geldes führt. Dies schmerzt weniger die Immobilien und Aktien besitzenden Superreichen, deren Vermögenswerte auf diese Weise nominell sogar anwachsen, und die staatlich Privilegierten – Beamte. Staatangestellte und Sozialhilfeempfänger –, sehr wohl aber schmerzt es die untersten Einkommensschichten, die sich mit ihrer Arbeit ihre Leben hart verdienen müssen. Die Gewerkschaften reagieren dann im Namen der Gerechtigkeit mit Lohnforderungen und heizen damit die Inflation zusätzlich an.
Rückbesinnung auf die Kernaufgaben des Staates
Und was wäre die Lehre daraus? Politiker und gesellschaftliche Meinungsführer sollten den Mut haben, den Bürgern reinen Wein einzuschenken. Der Staat sollte sich wieder auf seine spezifischen Aufgaben besinnen: Schutz der individuellen Freiheit und des Eigentums, Sicherheit im Innern und nach außen, Rechtsstaatlichkeit und Garantie diskriminierungsfreier Gleichheit vor dem Gesetz. Zu sorgen hat er auch für eine rechtliche Rahmenordnung für die Wirtschaft und vorteilhafte Rahmenbedingungen für unternehmerische Tätigkeit, wozu, soweit sie nicht durch den Markt bereitgestellt werden kann, auch die Infrastruktur gehört.
Zudem zählt zu den Kernaufgaben des Staates – unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips – die Bereitstellung sozialer Auffangnetze für jene, die sich nicht selbst helfen können. Sozialversicherungssysteme wiederum sollten auf Selbstverantwortung beruhen und diese fördern und deshalb so weit wie möglich kapitalgedeckt sein, also auf Konsumverzicht – Ersparnissen – beruhen. Wie weit dies gerade im Zeichen von hoher Mobilität, Migration und Globalisierung notwendigerweise eine Staatsaufgabe sein muss und dafür nicht marktwirtschaftliche, individuell diversifizierte Instrumente besser geeignet wären, darüber lässt sich streiten.
Alles andere jedenfalls ist Luxus, den eine Gesellschaft sich unter Umständen zwar leisten kann und darf, aber nur so, dass er nicht auf Kosten der Allgemeinheit geht, also auf Dauer ohne weitere Schuldenaufnahme finanzierbar bleibt. Teil dieser Allgemeinheit, vergessen wir es nicht, sind auch die kommenden Generationen. Unsere Verantwortung schließt also auch sie mit ein. Alles andere hieße, über unsere Verhältnisse zu leben und auf Kosten anderer Raubbau an der Zukunft zu treiben.