Zeitgeschichten von Gerhard Jelinek

Schon die Spiele in Paris 1924 werden zum ersten globalen Großereignis

7. August 2024Lesezeit: 6 Min.
Kommentar von Gerhard Jelinek

Gerhard Jelinek ist ein österreichischer Journalist, Fernsehmoderator und Buchautor. Der Jurist und erfahrene Journalist gestaltete rund 70 politische und zeitgeschichtliche Dokumentationen und Porträts.

Wenige Tage noch feiern Hunderttausende in Paris Sieger, aber auch Verlierer bei den olympischen Spielen in Paris. Schauplätze, Organisation und sportliche Leistungen sind außergewöhnlich. Stars, wie etwa der französische Schwimmer Leon Marchand oder die US-Turnerin Simone Biles sind auf dem Weg zu Legenden. Paris bietet die große Bühne – wie schon vor hundert Jahren.

In der Pariser Julihitze entstehen bei den VIII. Olympischen Spielen, den ersten nach dem Ersten Weltkrieg drei Legenden. Der finnische Läufer Paavo Nurmi gewinnt fünf Goldmedaillen und geht in den Sprachgebrauch von Generationen ein: „Laufen wie ein Nurmi.“ Der Amerikaner Johnny Weissmuller schwimmt als erster Mensch hundert Meter unter einer Minute und wird später als ”Tarzan” weltberühmt. Und die Geschichte des streng gläubige schottische Läufer Eric Liddell wird verfilmt: „Chariots of Fire“ bekommt einen goldenen Oscar.

Die Pariser Spiele im Juli 1924 bringen den Durchbruch der olympischen Idee zu einem wirklich weltweiten Sportereignis. Pierre de Frédy, Baron de Coubertin, der Ideengeber der olympischen Idee in der Neuzeit hat sich gewünscht, „seine“ Spiele noch einmal in der französischen Hauptstadt eröffnen zu dürfen. Tausend Journalisten reisen nach Paris. Viele Bewerbe werden von einem Dutzend Kamerateams auf Zelluloid belichtet. Ein Flugzeug kreist über dem Stadion. Stehend filmt der Kameramann aus der Vogelperspektive. 

Die Spiele von Paris sind die ersten, über die via Radio „live“ berichtet wird. Frankreich inszeniert ein Großereignis. Im nordwestlichen Vorort Colombes wird ein Rugby-Stadion mit 45.000 Plätzen zum „Stade Olympique“. Bei der Eröffnung bleiben allerdings etliche Plätze leer. Ein Pferderennen zieht an diesem Wochenende drei Mal so viele Zuschauer an.

Das Wiener Sport-Tagblatt ist von der Eröffnung beeindruckt: „Das Stadion beginnt in Farbe zu strahlen, wie ein Kaleidoskop. Die wehenden Flaggen, die verschiedenen Dressen und Kleider der einmarschierenden Gruppen, die umgebenden Menschenwälle, die Uniformen, der grüne Rasen, die lachende Sonne, alles vereinigt sich mit den Klängen der Musik zu einem wundervollen Gesamteindrucke.“ 

Erstmals leisten knapp 3.000 Athleten und 136 Athletinnen aus 45 Nationen den olympischen Eid. Nur eine große Nation fehlt: Deutschland. Ein letztes Mal bleiben die Deutschen als Verlierer des Weltkriegs von diesem größten internationalen Sportfest ausgesperrt. Zwölf Jahre später wird Adolf Hitler in Berlin die Olympischen Spiele als seinen „Triumph des Willens“ inszenieren. Die deutschen Zeitungen rächen sich für den Ausschluss des Reichs aus der sportlichen Völkerfamilie. Sie berichten kaum eine Zeile.

Die kleine Republik Österreich hingegen entsendet ein Kontingent nach Paris. Insgesamt sind 46 Sportler und drei Sportlerinnen nominiert. Die meisten Athleten müssen sich die Anreise im Sonderwagen der Bundesbahn selbst zahlen. Österreichs Fahne wird bei der Eröffnung vom Gewichtheber Franz Aigner getragen. Ein Berichterstatter schreibt ein bisschen beschämt: „Wie unsere Leute so wenig Mann hoch erschienen, mit dem Schwergewichtler, der die Flagge trägt, macht es auf mich, in all dieser Pracht, einen fast ärmlichen Eindruck, aber Oesterreich wird freundlich begrüßt, sein riesiger Fahnenträger defiliert, die rechte Hand der Tribüne ausgestreckt – hast du nicht gesehen – à la fascio!“

Wieso der Schwergewichts-Weltmeister Franz Aigner mit dem Faschistengruß in Paris einmarschiert? Vielleicht weil er beim Deutschen Kraftsport-Klub „Eiche“ Gewichte stemmt? Aigner wird immerhin mit einer Silbermedaille nach Wien heimkehren.

Allerdings schwört auch der französische Sportler Géo André den Olympischen Eid mit ausgestreckter rechter Hand – als olympischen Gruß oder als Zeichen einer heraufdämmernden Zeit?

Bei den Pariser Spielen 1924 werden Helden geboren, Legenden geschaffen.

Auch die Pariser Spiele selbst werden zur Legende, weil sie Jahrzehnte später den Hintergrund für den Oscar-Film Chariots of Fire über den schottischen Läufer Eric Liddell abgeben. Der in China geborene Sohn eines Missionars ist klarer Favorit für das 100-Meter-Rennen. Weil aber die Vorläufe an einem Sonntag beginnen sollen, verzichtet der gläubige Christ auf einen Start. Er predigt an diesem Tag in einer schottischen Kirche in Paris. Liddell tritt dafür über 400 Meter auf der Aschenbahn an und läuft in seiner schwächeren Disziplin eine neue Weltrekordzeit.

Der amerikanische Schwimmer Johnny Weissmuller gewinnt drei Goldmedaillen im Freistil, schwimmt als erster Mensch hundert Meter unter einer Minute und macht nach den Olympischen Spielen von Amsterdam 1928 in Hollywood Karriere. Als Tarzan wird er in zwölf Filmen von Liane zu Liane schwingen und dadurch weltberühmt, nicht unbedingt wegen seiner schauspielerischen Leistungen: „Das Publikum verzeiht meine Schauspielerei, weil es weiß, dass ich ein Athlet bin.“

Stemmen, Ringen, Schießen. Österreich ist nur in diesen Disziplinen erfolgreich. Alle Leichtathleten scheitern schon in den ersten Vorrunden. 

Die alpenländischen Olympioniken hinken den kleinen nordischen Nationen meilenweit hinterher. Finnland etwa ist in Paris eine Großmacht. Die Läufer Paavo Nurmi und Ville Ritola gewinnen gleich acht Goldmedaillen. Nurmi wird zum Helden der Spiele. Am dritten Tag schnürt der „fliegende Finne“ seine neuartigen hellbraunen Gummischuhe und geht über 1.500 Meter auf die Aschenbahn. Er lässt seinen Mitläufern keine Chance und gewinnt mit neuem Weltrekord. Keine halbe Stunde später kehrt Nurmi auf die Bahn zurück, um noch einmal, diesmal über fünf Kilometer, zu laufen: zwei olympische Wettkämpfe in einer Stunde. Wieder Weltrekord. Eine Legende wird geboren.

Drei Tage später steht Nurmi wieder am Start. Er kämpft um Gold im 10.650 Meter langen Querfeldeinlauf. Die Thermometer im Stadion zeigen 36 Grad – im Schatten. Auf der Strecke ist es glühend heiß. 38 Läufer starten, nicht einmal die Hälfte wird das Ziel erreichen. In die olympischen Annalen geht das Rennen als „Sonnenschlacht“ ein. 

Viele Läufer erleiden einen Sonnenstich, taumeln auf der Strecke, verlieren die Orientierung, laufen in die Gegenrichtung, brechen zusammen. Den Finnen Nurmi stört die Gluthitze nicht. Nach kaum 30 Minuten läuft er beim Marathontor wieder ins Stadion ein. 

Die Welt ist bei den Schilderungen der Radioreporter dabei. Olympia hat sein Drama. Olympia hat seine Helden. Olympia hat Nationen im Wettkampf zusammengeführt – oder auch nicht.

Die Londoner Times fordert in einem Leitartikel unmittelbar nach dem Ende der Spiele ein Ende für Olympia, es habe zu viel Streit unter den Nationen gegeben. Der fragile Friede dürfe nicht durch nationalistische Leidenschaften beim Sport gefährdet werden.

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