Österreichs Scheuklappen vor der nahenden Gas-Krise

2. Juli 2024Lesezeit: 3 Min.
Sara Grasel Illustration
Kommentar von Sara Grasel

Sara Grasel ist Chefredakteurin von Selektiv. Sie ist seit fast 20 Jahren Wirtschaftsjournalistin mit Stationen bei „Die Presse“, Trending Topics und brutkasten. Zuletzt war sie Chefredakteurin der Magazine der Industriellenvereinigung.

Mit Jahresende läuft der Transitvertrag für Gaslieferungen durch die Ukraine für Russland aus. Von dort kommt der größte Teil des Erdgases, das wir in Österreich brauchen – zum Heizen, für Strom und für die Industrieproduktion, die nach wie vor die Basis unseres Wohlstandes ist. Darüber, was dann geschieht, sind sich Expertinnen und Experten allerdings uneinig.

In den vergangenen Tagen und Wochen haben sich dazu zwei Denkschulen aufgetan. Zuletzt wies das Energieministerium unter Berufung auf eine Analyse von Energieagentur und E-Control drauf hin, dass es quasi nichts zu sehen gibt – Österreich wird seinen Bedarf aus anderen Quellen decken können, es sei kein Engpass zu erwarten. Gleichzeitig warnen der Think Tank oecolution, die für das Funktionieren des Gasmarktes zuständige AGGM, Energieexperte Johannes Benigni und zuletzt auch die Industriellenvereinigung laut davor, sich auf den derzeit noch gut gefüllten Gasspeichern auszuruhen.

Dass die Meinungen hier so auseinander gehen, liegt daran, dass von unterschiedlichen Szenarien ausgegangen wurde. Die Organisationen insbesondere rund um Gewesslers Ministerium gehen davon aus, dass sich alles gut ausgehen wird, unter anderem weil sich Länder, die über österreichische Leitungen mitversorgt werden müssten, ihrer Meinung nach über andere Quellen versorgen werden. Benigni war in diesem Punkt unlängst in einem Interview mit Selektiv weniger optimistisch: „Die Kapazitäten reichen zwar für Österreich, aber die Pipeline-Kapazitäten werden dann auch von Unternehmen aus anderen Ländern Mitteleuropas gebucht werden. Da wird sich Frau Gewessler nicht an die Grenze stellen und verbieten können, dass Gas zum Beispiel in die Slowakei oder nach Ungarn fließt“.

Wie das am Ende ausgeht, mag derzeit vielleicht noch nicht abzusehen sein, weil unklar ist, welches Szenario eintritt. Sich als zuständiges Ministerium in diesem Fall zurückzulehnen und zu sagen „wird schon gut gehen“ ist allerdings geradezu fahrlässig. Die Versorgung mit Energie ist eine derart essentielle Angelegenheit, dass ein wenig Alarmismus wohl angebracht wäre. Wenn die Quelle, die derzeit rund 80 Prozent unseres Gasbedarfs deckt von einem Tag auf den anderen wegfällt, muss man wohl kein Ökonom sein, um zu erahnen, dass das die Preise steigen lässt. Darüber herrscht übrigens auch unter Experten Einigkeit – bloß bei der Höhe gehen die Meinungen auseinander. Die Energiepreise sind in Europa und Österreich aber jetzt schon höher als für die Wettbewerbsfähigkeit verträglich ist. Jede noch so geringe Steigerung wäre für die energieintensive Industrie ein Wahnsinn.

Dass derzeit in so manchem Szenario mit einem niedrigeren Gasbedarf gerechnet wird, liegt auch oder vor allem an der schwachen konjunkturellen Lage. Das kann und wird sich aber hoffentlich wieder ändern und wenn dann der Aufschwung den Energiebedarf hebt, sollte Österreich vorbereitet sein. Stattdessen scheint das Land nun mit Scheuklappen in die nächste Gaskrise laufen zu wollen.

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