ZEITGeschichten von Gerhard Jelinek

Österreichs Neutralität – die normative Kraft der Illusion

20. Juni 2024Lesezeit: 5 Min.
Kommentar von Gerhard Jelinek

Gerhard Jelinek ist ein österreichischer Journalist, Fernsehmoderator und Buchautor. Der Jurist und erfahrene Journalist gestaltete rund 70 politische und zeitgeschichtliche Dokumentationen und Porträts.

Nach dem NATO-Beitritt von Finnland und Schweden wird in Österreich – de facto nur in elitären Zirkeln – über die Neutralität diskutiert. Das wird eigentlich seit achtzig Jahren so gemacht. Anno 1955 hätte das Neutralitätsgesetz womöglich keine Mehrheit bei einer Volksabstimmung erhalten, heute wollen achtzig Prozent der Österreicher am „Konzept der Neutralität“ festhalten. 

Also, über Österreichs Neutralität diskutieren? Bundeskanzler Karl Nehammer hat eine Debatte schon im Ansatz für beendet erklärt und die SPÖ plakatierte sich im Wahlkampf für die Europawahl als Neutralitätsbewahrer. Die FPÖ will ohnehin eine „Festung“ bauen. Wer also will über die Neutralität diskutieren? Mit welchem Ziel? Und warum?

Derzeit glaubt eine eindeutige Mehrheit der Bevölkerung an das schlichte Konzept: Weil wir klein, eh nett und neutral sind, wird uns niemand etwas tun, und wenn doch, helfen uns andere, ohne, dass wir uns anstrengen müssen. Diese Illusion funktioniert seit dem Oktober 1955. 

Eine Lebenslüge wird irgendwann zur Wahrheit – oder die normative Kraft der Illusion.

Am Beginn steht eine Lebenslüge

Schon von der Geburtsstunde unserer Neutralität an, haben wir (unsere gewählten Volksvertreter) diesen Begriff als Mittel zum Zweck benützt. Zunächst um die Souveränität nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zu gewinnen und die vier Besatzungsmächte zu verlieren. Das war kluge Politik.

Österreichs Nationalrat beschließt am 25. Oktober 1955 mit großer Mehrheit (nur die VdU-Abgeordneten stimmen dagegen) das Neutralitätsgesetz – „aus freien Stücken“. Mitnichten. Schon am Beginn steht eine Lebenslüge. Die militärische Neutralität war der Preis, den Österreich für die Zustimmung der kommunistischen Sowjetunion zum Staatsvertrag zahlen musste. Und warum der Verzicht Österreichs auf einen Beitritt zu einem militärischen Bündnis für die damalige Führung der Sowjetunion wichtig war, erklärt sich aus der geopolitischen Lage. Die beiden neutralen Alpenländer Österreich und die Schweiz treiben einen knapp Tausend Kilometer langen Keil zwischen die NATO-Staaten Deutschland und Italien. Im Mai 1955 wird die NATO und der Warschauer Pakt gegründet. Der „Eiserne Vorhang“ aus Stacheldraht, Mauern, Minenfeldern und Wachtürmen trennt bis 1989 den Kontinent.

Im Februar 1955 hat die Schlussphase der Verhandlungen begonnen. Bundeskanzler Julius Raab wird nach Moskau eingeladen, de facto in den Kreml zitiert. Am 11. April startet eine sowjetische Illuschin vom russischen Militär-Flughafen bei Bad Vöslau. Die Regierungsdelegation hofft einen Vertrag mit nach Hause zu bringen.

Untrennbar mit den Verhandlungen, die sich bis zum Tod Stalins nur mühsam fortschleppten, war die Frage der „Allianzfreiheit“ oder später der „Neutralität“ verbunden. Wer das entscheidende Wort in die Verhandlungen einbrachte, wer es mit Inhalt erfüllte, darüber gibt es mehrere Versionen. Eine: Es war Heinrich Raab, der Bruder von Bundeskanzler Julius Raab, der im Mai 1945 ein Memorandum verfasste, in dem er „die integrale Neutralität der Schweiz“ als anzustrebendes Vorbild pries. Heinrich Raab lehrte damals Geschichte am Kantonalgymnasium in Uri.

Bei einem Mittagessen in Kreiskys Wohnung

Im Parteiprogramm der ÖVP, taucht der Begriff der „Neutralität“ schon 1947 auf. Der SPÖ-Politiker Karl Blecha wiederum beruft sich auf persönliche Gespräche mit Bruno Kreisky. Bei einem Mittagessen in der Privatwohnung des damaligen Staatssekretärs waren der russische Botschafter, aber auch Vertreter der Westmächte und Beamte des Außenministeriums um den Tisch versammelt. Bruno Kreisky sei nach dem Dessert zum Bücherschrank gegangen, habe das ‚dictionaire diplomatique’ herausgeholt und beim Stichwort „Schweizer Neutralität“ nachgeschaut. Der Staatssekretär wollte dem russischen Botschafter erklären, was mit dem Begriff ‚Allianzfreiheit’ gemeint sei. Kreisky hat ursprünglich die schwedische Allianzfreiheit als Modell für Österreich gesehen. Doch „Allianzfreiheit“ war den russischen Verhandlern zu wenig. Die Definition der Schweizer Neutralität gefiel schon besser. 

Die politische Führung der UdSSR hatte die österreichische Frage mit der Lösung der deutschen Frage verknüpft. Österreichs Staatsvertrag müsse gleichzeitig mit dem Friedensvertrag für Deutschland unterzeichnet werden. Genau diese Verknüpfung wollte die österreichische Diplomatie unter allen Umständen vermeiden. Der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer verfolgte den Alleingang Österreichs mit Sorge. Er fürchtete ein freies, ungeteiltes, aber neutralisiertes Österreich könnte für Deutschland Vorbildfunktion haben. Dies widersprach aber der eindeutigen Westorientierung Adenauers. Der deutsche Kanzler schickte 1954 sogar seinen Pressechef nach Wien, um Leopold Figl seine „großen Besorgnisse“ mitzuteilen. 

Auch die Westmächte waren von einer Neutralität der Alpenrepublik wenig begeistert. Österreichs Politiker beschwichtigten. Der amerikanische Gesandte Erhardt berichtete über Gespräche mit SPÖ-Vizekanzler Adolf Schärf. Dieser habe argumentiert: „The Austrian Government must pretend to be neutral in East-West controversy”. „Pretend“ ist ein verräterisches Wort. Österreich müsse „vortäuschen“ neutral zu sein. 

Nie ganz ernst gemeint

So hat Österreich die immerwährende Neutralität gehandhabt: Nie ganz ernst gemeint. Die ideologische Westorientierung wurde schon beim Ungarn-Aufstand 1956, später bei der Niederschlagung des Prager Frühlings auf die Probe gestellt. Österreich hat damals den Test mutig bestanden. Und die militärischen Planungen in den 1970er- und 1980er-Jahren waren eindeutig gegen den „Ostblock“ gerichtet. Wien wäre nicht verteidigt worden, der gesamte Widerstand des Bundesheeres gegen ein Vorrücken russischer Kampfverbände war auf den Raum Amstetten, die „Schlüsselzone 35“ konzentriert. Ein sowjetischer Angriff sollte wenigstens 48 Stunden verzögert werden. Diese Planung war nie ein Geheimnis.

Im Zuge der Verhandlungen für einen EU-Beitritt musste Österreichs Definition der Neutralität auf den Kern der Bedeutung reduziert werden: Keine fremden Truppen auf Österreichs Staatsgebiet, keine Teilnahme an kriegerischen Auseinandersetzungen. Dennoch war Russland zu keiner ausdrücklichen Zustimmung zu bewegen. Nur stillschweigend wurde Österreichs EU-Beitritt akzeptiert. 

Ein Klischee zwischen Lipizzanern und Mozartkugeln

In den Jahren danach hat sich Österreich Schritt für Schritt an das westliche Verteidigungsbündnis angenähert. Das Mittel zum Zweck heißt „Partnership for Peace (plus)“. Wir sind dabei, aber doch nicht Mitglied. Ein realpolitisch ohnehin aussichtsloser NATO-Beitritt würde wenig, bis gar nichts ändern, so bleibt die Neutralität das, was es war: ein österreichisches Klischee zwischen Lipizzanern und Mozartkugeln – die sind auch noch nicht passe.

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