Der Nationalratspräsident ist zu mächtig – und trotzdem steht er der FPÖ zu

24. Oktober 2024Lesezeit: 5 Min.
Kommentar von Georg Renner

Georg Renner ist freier Journalist in Niederösterreich und Wien mit Fokus auf Sachpolitik. Er publiziert unter anderem für „Datum“ und „WZ“, zuvor war er nach Stationen bei der „Presse“, „NZZ.at“ und „Addendum“ Innenpolitikchef der „Kleine Zeitung“.

Heute Mittag beginnt die XXVIII. Legislaturperiode der Republik Österreich – ab 12:30 Uhr nehmen die 183 Abgeordneten zum Nationalrat ihre Sitze ein und konstituieren sich, zumindest planmäßig, für die nächsten fünf Jahre (Sie können die Sitzung z. B. über die ausgezeichnete Parlaments-Mediathek livestreamen). Die Sitzordnung – SPÖ ganz links, FPÖ ganz rechts, der Rest in der Mitte – hat ein Mann ganz allein entschieden: Wolfgang Sobotka, der gerade seine letzten Stunden als Nationalratspräsident verbringt.

Jetzt geht es bei der Sitzordnung um nicht viel, auch wenn das manche Abgeordneten, die fernsehtauglich präsentabel in den ersten Reihen sitzen wollen, vielleicht anders sehen. Aber dass das eine Person allein entscheiden kann – in diesem Fall hatten die Parteien vorher die Chance auf eine einvernehmliche Einigung, an der sie gescheitert sind – wirft schon ein wenig die Schatten von einem sehr, sehr mächtigen Amt voraus: Bei der Frage, wer Nationalratspräsident ist, geht es um etwas.

Wenn heute mit Walter Rosenkranz wohl zum ersten Mal in der österreichischen Geschichte ein Freiheitlicher in das formal zweithöchste Amt des Staates gewählt wird, wird das nicht unumstritten sein – man muss dabei aber differenzieren, warum. Zum einen, was das Amt des Nationalratspräsidenten selber betrifft – und zum anderen, was den FPÖ-Kandidaten dafür angeht.

Zu viel Macht, zu wenig Kontrolle

Fangen wir mit dem Amt an: Wie viele politische Beobachter – zum Beispiel der Anwalt und ehemalige Pilz-Abgeordnete Alfred Noll – finde ich, dass der Nationalratspräsident zu viel Macht bei zu wenig checks and balances hat. Auf der Haben­-Seite des Amtes steht: Nur er beruft Sitzungen des Nationalrates ein, nur er bestimmt die Tagesordnung, nur er gewährt Redezeit, nimmt Anträge an, kann das Wort entziehen oder den Sitzungssaal räumen lassen. Seine Stellvertreter, der Zweite und Dritte Präsident, vertreten und beraten ihn, können seine Entscheidungen aber nicht overrulen, wenn er sich festgelegt hat. Sollte es jemand darauf anlegen, den Gesetzgebungsprozess lahmzulegen: Der Nationalratspräsident kann es, indem er einfach keine Sitzungen mehr einberuft oder nur genehme Anträge annimmt.

Dem gegenüber steht eine in der Republik einzigartige Jobsicherheit: Ist der Nationalratspräsident einmal mit einfacher Mehrheit der Abgeordneten gewählt, haben sie keine Möglichkeit, ihn wieder loszuwerden. Gleichzeitig ist er in seiner Amtsführung völlig immun gegen Strafverfolgung. Das ist eine (aus der Geschichte begründete) Sonderstellung, die nicht einmal der Bundespräsident hat, der per Beschluss der Bundesversammlung und Volksabstimmung aus dem Amt abgesetzt werden kann.

Das Staatsoberhaupt hat übrigens auch die einzige Möglichkeit in der Hand, einem destruktiven Nationalratspräsidenten Herr zu werden – indem er (auf Vorschlag der Bundesregierung) den Nationalrat komplett auflöst und so eine Neuwahl erzwingt – eine nukleare Option, sollte ein Nationalratspräsident beschließen, den politischen Prozess zu sabotieren. Es wäre sinnvoll, dem wichtigen Amt an der Spitze des Parlament stärkere checks and balances gegenüberzustellen – etwa, indem man ihn abwählbar macht (was übrigens besonders die FPÖ seit Jahrzehnten zurecht fordert), oder indem man zumindest einige seiner Kompetenzen von einem monokratischen, allein entscheidenden Organ zu einem kollegialen Gremium, dem Präsidium verlagert.

Zwischen Organ und Organwalter unterscheiden

Von diesen Reformüberlegungen – Journalisten weisen seit Jahr und Tag darauf hin, ähem – sollte man aber die Frage trennen, ob generell die Freiheitlichen und im Speziellen der Mann, den die FPÖ nominiert hat, dafür geeignet ist, dieses Amt auszuüben. Vor allem die Grünen finden: Nein, wegen seiner Berührungspunkte mit der deutschnationalen Szene zum Beispiel.

Ich – und wahrscheinlich viele Abgeordnete – sehe das pragmatischer: So unangenehm die Kontakte der FPÖ zum rechten Rand als ganzes sind, die Wählerinnen und Wähler haben sie im September nun einmal zur stärksten Partei im Nationalrat gemacht. Wenn sie einen Kandidaten aufstellt, der das Parlament und seine Arbeit erwartungsgemäß verantwortungsvoll leiten wird, sollte die Tradition beibehalten werden, dass die stärkste Fraktion auch den Nationalratspräsidenten stellt. Das ist kein verbindliches Recht, aber eine sinnvolle „Usance“, die dazu beiträgt, dass das Amt von allen als überparteilich wahrgenommen wird.

Jetzt hätte die FPÖ auf Krawall gehen können und tatsächlich völlig untaugliche Kandidaten nominieren können: Parteichef Herbert Kickl hätte selber ins Rennen gehen oder völlig ins verschwörungstheoretische abgedriftete Mandatare schicken können, bei denen man tatsächlich nicht sicher sein kann, ob sie Sitzungen einberufen würden, wenn ihnen deren Inhalt nicht passen würde – auch davon hat die FPÖ einige in ihren Reihen, und zwar mehr als je zuvor.

Stattdessen nominiert die Partei mit Rosenkranz einen für ihre Verhältnisse sehr moderaten Kandidaten. Es gibt aus heutiger Sicht – möge das gut altern – kaum Zweifel daran, dass der Anwalt (und übrigens, wie Sobotka, ausgebildete Musiklehrer), Ex-Volksanwalt und Bundespräsidentschaftskandidat das Amt überparteilich und verantwortungsvoll ausüben wird, wie das schon blaue Vorgänger im Amt des Zweiten und Dritten Präsidenten (Herbert Haupt, Martin Graf, Anneliese Kitzmüller oder Norbert Hofer zum Beispiel) getan haben.

Solange es keine Hinweise darauf gibt, dass Rosenkranz das Amt missbrauchen würde, sollte er Nationalratspräsident werden. Und das Amt als ganzes gehört – unabhängig davon – reformiert.

Interview mit Karlheinz Kopf: „Das ist wie in Jesolo am Strand“

Karlheinz Kopf verlässt mit der neuen Legislaturperiode nach 30 Jahren den Nationalrat. Im Interview erzählt er von hitzigen Debatten und gelebter Praxis und erklärt, wie Ausschüsse funktionieren, was er Neulingen im Parlament rät und wie Sitzplätze gewählt werden.

Karlheinz Kopf ist Nationalratsabgeordneter und Generalsekretär der Wirtschaftskammer © WKÖ/Marek Knopp
Karlheinz Kopf ist Nationalratsabgeordneter und Generalsekretär der Wirtschaftskammer © WKÖ/Marek Knopp