Innovationskraft: Trotz KI müssen wir „am Werk sein“
Der Genetiker Markus Hengstschläger ist Leiter des Instituts für Medizinische Genetik und Organisationseinheitsleiter des Zentrums für Pathobiochemie und Genetik an der Medizinischen Universität Wien und u.a. auch stellvertretender Vorsitzender der österreichischen Bioethikkommission, Aufsichtsratsvorsitzender der Gesellschaft für Forschungsförderung Niederösterreich, Kuratoriumsmitglied des Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds und Gründer und Leiter des Symposiums „Impact Lech“.
Ich gehöre zu jenen, die fest davon überzeugt sind, dass Künstliche Intelligenz (KI) eine enorme Chance für die Wissenschaft, Medizin, Wirtschaft u.v.m. darstellt. Und ja natürlich, wie für alle neuen Technologien in der Vergangenheit, gilt es auch hier mögliche Risiken zu bedenken. Zusätzlich ist es aber auch essenziell die Anwendung von KI so zu lehren, dass die Interaktion von Maschine und Mensch gegenseitig beflügelnd und nicht hemmend wirkt.
Vor einigen Wochen erschien ein Artikel im Time Magazine von Victoria Livingstone unter dem Titel „I quit teaching because of ChatGPT“. Livingstone ist Autorin, Lehrbeauftragte und Redakteurin einer Zeitschrift für Literaturwissenschaft. Sie hat fast 20 Jahre unterrichtet. Zuletzt hat sie Doktorandinnen und Doktoranden das Verfassen wissenschaftlicher Texte nähergebracht. Die Autorin argumentiert, dass das Schreiben, das Verfassen von Texten, ganz stark mit dem Denken verbunden ist. Es handelt sich dabei nicht nur um das Auf- oder Niederschreiben bereits bestehender Gedanken, sondern das Neue, das Innovative, entwickelt sich oft beim Schreiben weiter, gewissermaßen während des Tuns. Ihre Studierenden seien aber zunehmend nicht mehr bereit diesen Prozess mit all seinen Anstrengungen und notwendigen Bemühungen um Klarheit auf sich zu nehmen und wählen die Abkürzung über das leicht zu beschreitende Tal der KI. Die meisten ihrer Studierenden, so Livingstone, wollen den vielleicht nicht immer bequemen aber doch so erfüllenden Weg des Schreibens nicht mehr gehen und lernen schließlich die innovative Kraft des Schreibprozesses gar nicht mehr kennen beziehungsweise zu nutzen. „I found myself spending more time giving feedback to AI than to my students.”
Egal in welchem Zusammenhang – das Erstellen von Texten sei hier nur exemplarisch herangezogen – gilt es meiner Meinung nach das Tun selbst, das am Werk sein, von dem Produkt, dem schließlich erarbeiteten Werk zu unterscheiden. Beides ist relevant. Letzteres trägt aber im Wesentlichen dann zur Entfaltung der Persönlichkeit und zur Entwicklung von Selbstbewusstsein bei, wenn es durch ersteres entstanden ist. Und schließlich ist das am Werk sein die beste Voraussetzung für kreatives Denken, das Entstehen von Geistesblitzen, das zufällige Treffen auf neue Ansätze im Sinne von Serendipität und das Trainieren von Lösungsbegabung. Es ist daher auch in Zukunft unverzichtbar in Bildung und Ausbildung das Arbeiten am Werk, den Prozess des Entstehens, zu lehren. Und, um die Möglichkeit zu bieten sich dabei laufend weiterzuentwickeln, soll dieser Prozess von den Auszubildenden dokumentiert und von den Lehrenden evaluiert werden. Die menschliche Innovationskraft genauso wie die von Empathie getragene Lösungsbegabung trainiert man beim „am Werk sein“.
Dafür braucht es zusätzlich noch Verständnis für Verzerrungen (Bias), für gewissenhafte und kritische Recherche, für die Qualität und Relevanz von Quellen und Zitaten oder die Fähigkeit über den Tellerrand zu schauen und unkonventionelle Zusammenhänge zu denken – alles nicht gerade Stärken aktueller generativer KI. KI kann so vieles Wertvolles wie etwa das Liefern von Entscheidungsgrundlagen durch die Analyse großer Datenmengen. Würden wir sie aber so einsetzen, dass sie uns die Chance nimmt, kritisches Denkens zu üben beziehungsweise bei anderen zu fördern, tun wir uns auf lange Sicht keinen Gefallen, weder in der Wissenschaft noch in der Wirtschaft. Wer am Werk ist braucht Werkzeug. Und KI richtig angewendet ist ein tolles Werkzeug, das wir unbedingt – richtig – nutzen sollen.