Inflation: Schluss, aus, vorbei?

17. Oktober 2024Lesezeit: 4 Min.
Kommentar von Heike Lehner

Heike Lehner ist freiberufliche Ökonomin. Ihre Spezialgebiete liegen im Bereich der Geldpolitik und Finanzwirtschaft, wozu sie aktuell ebenso promoviert.

Das soll es jetzt also gewesen sein. Im September lag die Inflationsrate nicht nur über das gesamte Währungsgebiet gesehen unter dem Inflationsziel der EZB von zwei Prozent, sondern auch in den größten Volkswirtschaften der Eurozone wie etwa Deutschland, Italien und Frankreich. Die Finanzmärkte scheinen die Auswirkungen des Inflationsschocks der letzten Jahre weitgehend abgehakt zu haben. Der Fokus richtet sich nun auf das geringe Wirtschaftswachstum, das die Europäische Zentralbank (EZB) mit Zinssenkungen nun wieder beflügeln soll. Denn in den vergangenen Wochen haben vor allem schwache Vorlaufindikatoren der Wirtschaftsleistung die Marktteilnehmer beunruhigt. Immerhin soll die Währungsunion nicht erneut die gleichen Albträume wie noch in den 2010er Jahren erleben: Schwache Wirtschaftsleistung gepaart mit Deflationsängsten.

Daher soll die EZB heute also nicht, wie noch vor wenigen Wochen bei der Septemberentscheidung der Notenbank angedeutet, die Zinsen halten. Und dann erst im Dezember wieder senken. Stattdessen könnte es bereits heute zu einer Zinssenkung von 0,25 Prozentpunkten kommen. Somit würde der relevanteste der drei Zinssätze der EZB, die Einlagefazilität, zu der Banken kurzfristig Geld bei der EZB parken können, bei 3,25 Prozent liegen. Manche fordern sogar einen Zinsschritt von 0,5 Prozentpunkten, um der Wirtschaftsentwicklung den nötigen Push zu geben. Ähnlich wie die US-Notenbank Federal Reserve zuletzt, soll sie damit die Märkte überraschen. Egal wie man es dreht und wendet: Die Inflation soll also nun endgültig der Vergangenheit angehören. Schluss, aus, vorbei. Doch ist die Inflation wirklich Vergangenheit? Ist das Kapitel tatsächlich abgeschlossen?

Die wirtschaftlichen Herausforderungen der Eurozone sind in der Tat gravierend. Sowohl konjunkturelle als auch darunterliegende strukturelle Themen beschäftigen die Währungsunion. Demnach ist es verständlich, dass Marktteilnehmer bereits bei schwachen „weichen“ Indikatoren wie Umfragen die Ohren spitzen. Doch für die EZB würde dies ein Umdenken bedeuten – hatte sie doch noch vor fünf Wochen bei der letzten Sitzung wieder einmal betont, dass sie auf „harte“ Daten wartet, bevor sie eine Entscheidung trifft. Diese Daten sind zum jetzigen Zeitpunkt noch Mangelware. Zusätzlich betrachtet sie nicht einzelne Datenpunkte, wie zuletzt die Inflationsrate von unter zwei Prozent im September, sondern berücksichtigt den gesamten Kontext der veröffentlichten Daten. Zu diesem Kontext gehören ebenso die noch immer besorgniserregend hohen Dienstleistungspreise. Diese schwanken seit Monaten rund um die hohe Vier-Prozent-Marke. Ein abrupter Schwenk der EZB innerhalb so kurzer Zeit wäre bemerkenswert.

Auch mittelfristig, bis 2026, ist nun in Umfragen unter Ökonomen ein niedrigerer finaler Zinssatz in der Eurozone angedacht als noch im September. Und ja: Das schwache Wachstum der Eurozone gepaart mit geplanten Konsolidierungen der Staatsbudgets ist ein toxischer Cocktail. Er fördert deflationäre Tendenzen. Dennoch gibt es klare Anzeichen, dass diesem in den vergangenen Jahren noch unbekannte Problematiken entgegenstehen. Dabei geht es nicht nur um die bekannten geopolitischen Risiken, die etwa die Ölpreise in die Höhe treiben könnten. Insbesondere protektionistische Tendenzen der wichtigen Industrieländer werden zunehmend relevanter. Der Preistreiber Deglobalisierung und der Anstieg der Handelshemmnisse sind keine Bedrohungen der Zukunft mehr. Sie sind bereits Realität. Ausgleichszölle und die Erarbeitung der „strategischen Autonomie der Europäischen Union“, wie es so schön heißt, mögen politisch gewollt sein. Für die Preisentwicklung bedeuten sie jedoch nichts Gutes.

Schlussendlich bezahlen wir alle für diese politischen Entscheidungen mit höheren Preisen, nicht nur für E-Autos. Hinzu kommt der Fachkräftemangel, der sich nur noch verstärken wird. Der Arbeitskräftemangel ist nach wie vor laut Umfragen der limitierende Faktor schlechthin für Unternehmen in der Eurozone. In einer alternden Gesellschaft wird sich diese Problematik weiter verstärken. Der Kostenfaktor Arbeit wird teurer und schwerer zu bekommen. Sollten wir etwa durch technologischen Fortschritt diesen Faktor nicht ersetzen können, steigen dadurch die Preise für Güter und Dienstleistungen.

Das schnelle Umdenken der Märkte und wahrscheinlich auch der EZB bei der heutigen Zinsentscheidung mag darauf abzielen, die schwache Wirtschaftsleistung der Eurozone nicht weiter durch hohe Zinsen zu belasten. Doch in den kommenden Monaten und Jahren stehen weitere Herausforderungen bevor, die das Potenzial für erneute Preissteigerungen bergen. Diese könnten letztlich zu höheren Zinsen führen, als wir es in den letzten Jahren gewohnt waren.

Wir werden sehen, ob die EZB heute tatsächlich nachgibt und die Zinsen senkt. Auch ihre Argumentation hierfür wird interessant werden. Nur das schwache Wirtschaftswachstum zu betrachten, wird jedoch zu wenig sein. Statt die Augen vor der Realität zu verschließen, muss die EZB die zunehmende Komplexität der wirtschaftlichen Lage in ihre Entscheidungen mit einbeziehen.