Kontrapunkt von Martin Rhonheimer

Europa ist ein Freiheitsprojekt – oder sollte es wieder werden

9. Juni 2024Lesezeit: 8 Min.
Martin Rhonheimer Illustration
Kommentar von Martin Rhonheimer

Martin Rhonheimer, geboren 1950 in Zürich, ist Präsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy (Wien). Von 1990 bis 2020 lehrte er Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. Er ist u.a. Mitglied der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft, der Ludwig-Erhard-Stiftung und der Europäischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und schreibt regelmäßig in der NZZ.

Die europäische Integration ermöglichte Wohlstand in bisher ungeahntem Maße. Die politischen Antworten auf die Finanzkrise von 2008 ließen die Mitgliedstaaten wirtschaftlich aber wieder auseinanderdriften. Und nun stehen in der EU die Zeichen auf Zentralisierung und grüne Planwirtschaft. Wie konnte es so weit kommen?

Der Prozess der europäischen Einigung begann mit einem Kartell. Als erste supranationale Organisation nach dem Zweiten Weltkrieg entstand 1951 die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“, Der „Montanunion“ genannte Industriekoloss diente aus französischer Sicht der Kontrolle der deutschen Stahl- und Kohleindustrie. Man wollte auf diese Weise Frankreich vor zukünftiger kriegerischer Bedrohung durch den ewigen Rivalen Deutschland absichern. Aus deutscher Sicht war die Vergemeinschaftung der Produktion von Kohle und Stahl der entscheidende Schritt in die Westbindung, womit Deutschland politisch wieder salonfähig werden sollte.

Industriepolitik als Friedenspolitik

Die auf dem sogenannten Schumann-Plan gründende Montanunion war damit – zumindest in der offiziellen Lesart – ein Friedensprojekt mit den Mitteln supranationaler Industriepolitik. Doch just als solches widersprach sie diametral den nach ihr zur Dominanz gelangenden Bestrebungen der europäischen Einigung von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bis hin zur heutigen EU. Denn die große Leistung dieser Einigung war nicht der Friede in Europa. Diesen verdankt es den USA und der von ihr geführten NATO.

Die große Leistung der europäischen Einigung infolge der Römischen Verträge von 1957 war der Binnenmarkt und der Kampf gegen staatliche Subventionen und Staatsmonopole im Bereich öffentlicher Dienstleistungen. Der europäische Binnenmarkt wurde zu einem Raum der wirtschaftlichen Freiheit und Zusammenarbeit, auf subsidiärer Grundlage, das heißt: dezentral, mit Gewicht auf der jeweils unterst möglichen Ebene, ohne einen europäischen Superstaat. Die Vision war ein Europa ohne Binnengrenzen und entsprechender Freiheit für Dienstleistungen, Personen, Kapital und Waren. Die vier Grundfreiheiten brachten die EU als Freiheits-, Wirtschafts- und Wohlstandsgemeinschaft zum Erfolg. Man war überzeugt: Nicht suprastaatlicher Dirigismus und alles beherrschende Bürokratie schaffen Wohlstand, sondern die wirtschaftliche Zusammenarbeit freier Menschen in politisch liberal und demokratisch verfassten Staaten.

Erfolgsmodell Binnenmarkt – Spaltpilz Euro

Obwohl sich Europa aufgrund ganz verschiedener Kulturen in den einzelnen Mitgliedstaaten regional sehr unterschiedlich entwickelte, wurde der Binnenmarkt im Verbund mit Subsidiarität als politisches Grundprinzip ein Erfolgsmodell. Er ermöglichte zusammen mit anfänglich noch recht vernünftigen, weil bezahlbaren und keine Fehlanreize aussendenden Systemen der sozialen Absicherung Wohlstand in bisher ungeahntem Maße. Doch dann wurde die Europäische Währungsunion gegründet und ab 1999 schrittweise der Euro eingeführt. Dies geschah auf der einen Seite, um den – für viele wünschenswerten – Prozess der Vergemeinschaftung zu beschleunigen, anderseits aber – im Falle Frankreichs –, um die lästige Dominanz der auf Geldwertstabilität und fiskalischer Disziplin drängenden deutschen Bundesbank zu brechen. Die gemeinsame Währung – so das Versprechen der Politiker –, würde Europa noch mehr zusammenwachsen lassen und zur wirtschaftlichen Konvergenz führen. Ökonomen warnten, wurden aber nicht gehört.

Heute wissen wir: Die Warnungen waren berechtigt. Der Euro wurde zum Spaltpilz Europas, so dass Angela Merkel den Drohfinger erheben musste: „Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa“. Der damalige EZB-Chef Mario Draghi versprach, so viele Staatschulden aufzukaufen, sprich: den Staaten so viel frischgedrucktes Geld zu geben wie nötig, um den Euro – und damit also Europa – zu retten. Nicht zuletzt auch im Gefolge der internationalen Finanzkrise von 2008 und der damit einhergehenden Staatschuldenkrise wurden mit Hilfe der Notenpresse die Zinsen auf null und unter null gedrückt. Dringend notwendige Strukturreformen konnten auf diese Weise verschleppt werden, anstelle von Konvergenz drifteten die Mitgliedstaaten wirtschaftlich zunehmend auseinander.

Unbeabsichtigte Nebenfolge der Niedrigzinspolitik war eine ­­– sich längerfristig als inflationär entpuppende – Liquiditätsschwemme und Ausschaltung der für wohlstandsschaffendes Wirtschaften essentiellen Steuerungsfunktion des Zinses. Damit verschwand auch der Zwang zu Innovation und Produktivitätswachstum, die Seele des Wettbewerbs. Der relativ zu anderen Währungen immer schwächer werdende Euro war natürlich besonders lukrativ für die Exportindustrie, die niedrigen Zinsen wiederum waren ein Segen für jene, die sich Immobilien und Aktien leisten konnten. Ihre Vermögen wuchsen, die „normalen“ Sparer hatten das Nachsehen, ihr Sparbuch wurde wertlos. Es wuchsen soziale Ungleichheit und Misstrauen gegen die Eliten, in der Politik begann die Stunde der Populisten zu schlagen.

Die EU entdeckt die Industriepolitik neu

Dann kamen die Klimakrise und die Pandemie. Letztere ging ökonomisch glimpflich aus, doch die Staaten warfen mit Geld nur so um sich. Damit wurde eine Nachfrage angeheizt, die auf ein vergleichsweise zu kleines Güterangebot stieß und damit die Preise hochtrieb – die Inflation zeigte sich schon lange vor Ausbruch des Ukrainekrieges und der damit verbundenen Energieknappheit. Schließlich die Klimapolitik. Sie wäre mit einer CO2 Bepreisung und den Mechanismen des Marktes, der die zur Bewältigung der Krise nötigen Innovationen schaffen und – vor allem – sie rentabel machen würde, locker zu stemmen. Doch auch hier schlug nun die Stunde der grünen Antikapitalisten und sozialistischen Staats- und Bürokratiegläubigen. Staatliche Industriepolitik sollte es richten, auf EU-Ebene der „Green Deal“ mit gewaltigen Subventionen und einer grünen, planwirtschaftlich inspirierten Taxonomie, die allerdings bereits veraltet ist, da nun plötzlich – in Zeiten des Krieges, in denen sich Europa aktuell befindet – immer mehr die zuvor geächteten Rüstungsgüter zur Priorität werden.

Derweil entwickelt sich Europa weiterhin auseinander, EU-tragende Staaten wie Frankreich und Italien sind horrend überschuldet. Überall sind die Sozialstaaten aufgeblasen, fressen Steuergelder, verleiten zu neuer Schuldenaufnahme und entwickeln oft falsche Anreize für Sozialhilfeempfänger. Wobei das Thema der Überlastung der Sozialsysteme durch die massenweise Immigration von Unqualifizierten und nur schwer in den Arbeitsmarkt zu Integrierenden hier nur am Rande erwähnt sei.

Zentralisierung unter dem Deckmantel „Friedensprojekt“

Just in dem Moment nun, in dem Europa auseinanderdriftet und sich Interessenkonflikte, Überschuldung und – infolge der schwindendenden fiskalischen Spielräume der Regierungen – Verteilungskämpfe häufen, beginnt nun die Parole von Europa als „Friedensprojekt“ politische Programme und Wahlplattformen zu erobern. In der Tat könnte man, angesichts der Bedrohung aus dem Osten, der Parole heute einen Sinn abgewinnen.

Aber so ist es von denen, die sie jetzt im Munde führen, nicht gemeint. Sie träumen von einer EU, in der die Politik endlich durchgreifen und „gestalten“ kann, natürlich von ganz oben. Sie träumen sozusagen von einer Montanunion 2.0. Denn wegen des rein ideologisch motivierten Ausstiegs aus der Kernenergie, ist dabei witzigerweise wieder die schmutzige und extrem gesundheitsschädliche Kohle zentral. Sie plädieren für einen gigantischen, von oben gelenkten und politisch motivierten Umbau der Wirtschaft, ohne an die Kosten zu denken, denn wer – wie etwa der deutsche Wirtschafts- und Umweltminister Robert Habeck – von grünem Wasserstoff als die Lösung der Zukunft, redet, hat noch nie durchgerechnet, was dies kosten würde. Es wäre, wie Fachleute monieren, in den benötigten Mengen schlicht unbezahlbar, ganz abgesehen von den Kosten der dazu nötigen Speicher, für die eine ausgereifte Technologie noch gar nicht existiert. Hingegen hat der Markt, also unternehmerisches, innovatives Handeln, bereits Technologien entwickelt, die durchaus eine Chance hätten, das Problem zu lösen – wenn man sie denn lassen würde, so dass sie auch rentabel werden könnten. Aber gerade das wird durch die Markt und Wettbewerb unterminierende grüne Industriepolitik verhindert.

Was Europa erfolgreich machte

So stehen denn in der EU die Zeichen auf Zentralisierung und grüne Planwirtschaft. Verlorengegangen scheint der Glaube an die problemlösende Kraft der Freiheit, anstelle eines von oben organisierten „Friedensprojektes“. Wie der große österreichische Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich A. von Hayek vor nun genau achtzig Jahren in seinem 1944 erschienenen Buch „Der Weg zu Knechtschaft“ schrieb – er widmete das Buch „den Sozialisten in allen Parteien“ –, ist die Versuchung, die zur Knechtschaft führt, der Kollektivismus: Ein Denken, das den schöpferischen Wert der individuellen Freiheit und der Zusammenarbeit und Koordination individueller Entscheidungen auf dem Markt und das Innovationspotential des Wettbewerbs als „Entdeckungsverfahren“ (Hayek) verkennt und stattdessen auf Planung und staatliche Organisation setzt.

Leider schlägt Europa zunehmend diesen Weg ein und vergisst, was es im Laufe der Geschichte –  trotz aller Irrwege und von der Politik verursachter Katastrophen – erfolgreich gemacht hat: Vielfalt, dezentrale Entscheidungsstrukturen, Wettbewerb (auch zwischen den Staaten), kultureller Austausch und alles, was damit zusammenhängt. Der Versuch aus diesem kulturell, sprachlich und mentalitätsmäßig so vielfältigen Kontinent die „Vereinigten Staaten von Europa“ zu machen, mag zwar ein Traum sein – es war mein Jugendtraum –, aber auf demokratische Weise wird dies leider kaum geschehen können. Die Gefahr, dass unter dem Deckmantel eines „Europa als Friedensprojekt“ ein zentralistisch-bürokratischer Koloss auf der Grundlage einer Schuldenunion mit Weichwährung entstünde, ist real.

Was wir – zuvor und vor allem – bräuchten, wäre ein neues Bewusstsein, für was Europa seit 1945 steht: Für Zusammenarbeit auf der Grundlage von Freiheit, Vielfalt und Subsidiarität. So wurde Wohlstand geschaffen und –  nicht als direkt beabsichtigtes Ziel, sondern als Folge von Freiheit in Vielfalt – auch der Friede gewahrt.

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