ESG: Wie Marktversagen durch Staatsversagen ersetzt wird
Heike Lehner ist freiberufliche Ökonomin. Ihre Spezialgebiete liegen im Bereich der Geldpolitik und Finanzwirtschaft, wozu sie aktuell ebenso promoviert.
Es gibt kaum einen Begriff, der in den letzten Jahren so viel Aufmerksamkeit erfahren hat wie „ESG“. Seit seiner erstmaligen Erwähnung in einem Bericht der Vereinten Nationen im Jahr 2004 ist ESG heutzutage aus keiner Diskussion rund um jegliche Formen von Nachhaltigkeit wegzudenken. Die Abkürzung ESG steht für Umwelt (Environmental), Soziales (Social) und verantwortungsvolle Unternehmensführung (Governance). Unternehmen sollen sich stärker an diesen Kriterien orientieren und Informationen offenlegen und Investoren nach ESG-Faktoren investieren.
Regierungen möchten so mehr privates Kapital insbesondere für den Klimaschutz mobilisieren, und auch die Europäische Zentralbank (EZB) hat mittlerweile Gefallen daran gefunden, ihre Geldpolitik vermehrt nach Klimaschutzkriterien auszulegen. Bislang lag der Fokus vor allem auf dem „E“, wobei das „S“ immer wichtiger wird. Während in den USA der Begriff ESG eine starke Gegenreaktion bei den Republikanern ausgelöst hat, ist er in der EU noch größtenteils positiv besetzt. Doch es ist an der Zeit, das Thema wieder rational zu betrachten und auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren. Denn der Hype ist nur ein weiteres Zeichen des fehlenden Willens der Politik, die tatsächlichen Probleme an der Wurzel zu packen. Und er tut dem ganzen Thema „ESG“ nichts Gutes.
Abflüsse bei Nachhaltigkeitsfonds
In den vergangenen Monaten haben sich die Nachrichten überschlagen: Während im ersten Quartal 2024 in der Hochburg der Nachhaltigskeitsfonds, der EU, gesamt bei diesen Fonds noch Zuflüsse verzeichnet wurden, kam es in den USA zu Abflüssen. Seitdem deuten Daten aus dem April darauf hin, dass der Trend aus den USA immer stärker in der EU ankommt. Ein Grund dafür ist nicht nur der polarisierende Gegenwind der Republikaner in den USA, die sich damit dem Kampf gegen die „woke“ Linke verschrieben haben. Sondern gepaart mit dem schwierigen wirtschaftlichen Umfeld, dass die Renditen die Erwartungen nicht getroffen hatten. Die Realität hat die vielen Hoffnungen eingeholt. Und das, obwohl ESG als langfristiger Einflussfaktor für die Unternehmensperformance durchaus seine Daseinsberechtigung hat. Genauso wie alle anderen langfristigen Kriterien, etwa auch die Innovationsfähigkeit der Unternehmen. Diese sogenannten „immateriellen“ Faktoren wirken sich nicht nur positiv auf Unternehmen selbst, sondern auch auf die Gesellschaft aus.
Professor Alex Edmans von der London Business School sagt dazu treffend: „ESG ist extrem wichtig, aber gleichzeitig nichts Besonderes.“ Hinzuzufügen ist jedoch: Das gilt nur, wenn Regierungen ihre Arbeit machen und von Symptombekämpfung absehen. Wenn sie sich darum bemühen, das Funktionieren einer Marktwirtschaft zu unterstützen, anstatt ihr im Weg zu stehen. Dies geht, indem sie beispielsweise flächendeckend CO2 einen Preis geben, so wie von unzähligen Ökonomen gefordert und bisher nur unzureichend umgesetzt. Oder wenn sie ein kleinteiliges Lieferkettengesetz verabschieden, obwohl ein Fokus auf Ursachenbekämpfung, der Armut, sinnvoller wäre. Denn dann könnten diese ESG-Faktoren wie andere Kriterien marktkonform berücksichtigt werden. Stattdessen werden regulatorische Ungetüme als Allheilmittel verkauft oder die Aufgaben auf Zentralbanken abgewälzt.
Das Resultat: Tatsächlich existierendes Marktversagen wird durch Staatsversagen ersetzt. Die Regularien sind unzureichend und führen zu höheren Kosten als notwendig. Das blasenähnliche Interesse an ESG selbst hat dem ganzen Projekt ebenso nichts Gutes getan. Es führte nur zu kurzfristigen und zu viel zu übertriebenen Reaktionen. Was jetzt bleibt, sind ineffektive politische Lösungen und ein abflachender Hype. Gerade in einer Zeit voller Krisen und schrumpfender Wettbewerbsfähigkeit bräuchten wir Regierungen und Zentralbanken, die sich auf ihre Kernaufgaben fokussieren und sich nicht mit suboptimalen Lösungen zufrieden geben.