KOMMENTAR VON SARA GRASEL

Die Mutter der Wachstumschancen für Europa

16. Juli 2024Lesezeit: 5 Min.
Sara Grasel Illustration
Kommentar von Sara Grasel

Sara Grasel ist Chefredakteurin von Selektiv. Sie ist seit fast 20 Jahren Wirtschaftsjournalistin mit Stationen bei „Die Presse“, Trending Topics und brutkasten. Zuletzt war sie Chefredakteurin der Magazine der Industriellenvereinigung.

Man scheint sich ja schon fast damit abgefunden zu haben: Europas Wirtschaft schwächelt, in Deutschland noch stärker als anderswo und in Österreich erwartet man für heuer überhaupt eine Stagnation. Ja, was soll man schon machen angesichts der vielen Krisen, die auf externe Umstände zurückzuführen sind. Achselzuckend den Weg in die weltwirtschaftliche und geopolitische Irrelevanz beschreiten, ist natürlich eine Möglichkeit – wir könnten dann an vier Tagen pro Woche Post-Wachstums-Theorien diskutieren und Europa als Freilichtmuseum der schönsten Öko-Fantasien zumindest touristisch vermarkten. Wenn wir uns aber einig sind, dass Wirtschaftswachstum vielleicht doch ganz gut wäre, um die ökologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen und Chancen der Zukunft zu finanzieren, dann sollten wir uns langsam die ehrliche Frage stellen, woher denn ein entsprechender Impuls kommen könnte.

Während für den Euroraum heuer ein Wirtschaftswachstum von lediglich 0,8 Prozent erwartet wird und für nächstes Jahr 1,5 Prozent, gibt es durchaus dynamischere Wirtschaftsräume, von deren Wachstum die Industrie in Europa profitieren könnte. An der Spitze steht nach wie vor Indien, das heuer je nach Schätzung ein BIP-Wachstum von 6,6 bis sieben Prozent schaffen dürfte und kommendes Jahr in einer ähnlichen Größenordnung weiterwachsen wird. Mit Indien verhandelt die EU derzeit ein Freihandelsabkommen und ein Investitionsschutzabkommen. Letzteres würde Rechtssicherheit für Direktinvestitionen europäischer – also auch österreichischer – Unternehmen bringen und ersteres Exporte fördern. Es ist ein recht simples Prinzip, das bei den vielfach ideologisch geführten Debatten über Handelsabkommen gerne vergessen wird: In Indien würden mit einem solchen Abkommen idealerweise mehr Produkte gekauft werden, die nach unseren Standards in Europa produziert wurden. Gleichzeitig geht es immer auch um geostrategische Interessen – wenn Europa nicht als Handelspartner wichtiger wird, wer dann? Russland oder China springen sicher gerne ein.

Die Verhandlungen mit Indien gelten als schwierig, auch wenn der Besuch des indischen Premierministers Narendra Modi in Österreich vergangene Woche sicher ein gutes Signal war. Die Vorstellungen in Bereichen wie Nachhaltigkeit liegen teilweise meilenweit auseinander. Einfacher hätte es die EU mit einem anderen wichtigen Wirtschaftsraum gehabt: Mercosur. In Umweltfragen gab es deutliche Signale einer Kompromissbereitschaft. Angesichts der tatsächlich überschaubaren Relevanz südamerikanischer Rindfleischimporte in Europa (Gegner des Abkommens haben Angst vor billigen Rindfleisch-Edelteilen am europäischen Markt) und demgegenüber massiven Exportpotenzialen europäischer Industriegüter, ist es ärgerlich, dass es noch nicht gelungen ist, dieses Abkommen unter Dach und Fach zu bringen.

Dass wir uns in Europa in den letzten Jahren so zieren, wenn es um Freihandel geht, ist grundsätzlich ein seltsames Phänomen. Es war immer die Öffnung hin zu neuen Märkten, die in Europa Aufschwung, Wachstum und Wohlstand gebracht hat. Das beste Beispiel ist der europäische Binnenmarkt selbst. Seit dem Österreich 1995 der EU beigetreten ist, haben sich die Exporte in die anderen EU-Länder von 33 Milliarden Euro auf 112 Milliarden Euro (2021) mehr als verdreifacht. Das Beispiel Ceta zeigt außerdem eindrucksvoll, wie unbegründet viele in ideologischen Debatten geäußerte Freihandels-Ängste oftmals sind. Es ist fast sieben Jahre her, dass das umstrittene Handelsabkommen mit Kanada in Kraft trat. Seither hat es wider aller Mahnungen kein Chlorhuhn über Kanada in österreichische Supermärkte geschafft, es gab keine Klagen kanadischer Unternehmen gegen europäische Regierungen und die Wasserversorgung ist auch nicht in die Hände ausländischer Privatinvestoren geraten. Stattdessen sind die österreichischen Exporte nach Kanada seit Ceta 2017 in Kraft trat massiv gestiegen – alleine bis 2021 um 48 Prozent. Der bilaterale Handel zwischen EU und Kanada stieg zwischen 2016 und 2022 um 65 Prozent und schuf laut EU-Kommission 70.000 neue Arbeitsplätze in der EU.

Die Chancen, die für die derzeit schwächelnde europäische Wirtschaft in Indien und dem Mercosur-Raum liegen, sind groß. Sie sind aber nichts gegen die Chancen, die jenes Abkommen bieten würde, über das sich beinahe niemand mehr sprechen traut: Freihandel mit den USA. Die USA sind der wichtigste Wirtschaftspartner Europas, für Österreich der zweitwichtigste Exportmarkt nach Deutschland und vor Italien. Ein Deal zwischen den beiden Wirtschaftsräumen wäre quasi die Mutter aller Handelsabkommen. Er würde das größte Schwergewicht der Weltwirtschaft für europäische Unternehmen weiter öffnen. Ein Freihandelsabkommen hätte zudem das Zeug, die Schwierigkeiten zu lösen, die der Inflation Reduction Act (IRA) für europäische Unternehmen gebracht hat. Zur Erinnerung: Der IRA verspricht hohe Zuschüsse und Steuerbegünstigungen, wenn E-Fahrzeuge und Batteriekomponenten vornehmlich in den USA – oder Ländern mit Freihandelsabkommen – produziert werden. Gleichzeitig wären die USA und Europa geostrategisch ein starker Player, um gegenüber China Interessen durchzusetzen.

Seit die Verhandlungen zu TTIP, der „Transatlantic Trade and Investment Partnership“, vor Jahren gescheitert sind, wird über ein Abkommen mit den USA jedoch kaum gesprochen. Wohl auch aufgrund der geringen Erfolgsaussichten, die unter Trump 2 kaum besser werden dürften. Wahrscheinlich aber auch nicht schlechter, denn Joe Biden hat bei der Trumpschen Handelspolitik auch nicht gerade das Ruder herumgerissen. Trumps „America First“ zielte zwar in erster Linie auf China ab, traf aber mit Maßnahmen wie Sonderzöllen auf Importe von Stahl und Aluminium auch europäische Unternehmen. Biden hatte die Zölle nicht aufgehoben, aber für europäische Länder bis Ende 2025 ausgesetzt – ob diese Ausnahme verlängert wird, ist ungewiss. Im Gegenteil: Weitere Zölle sind in der wohl anstehenden nächsten Amtszeit von Donald Trump sehr wahrscheinlich. Ein guter Grund für Europa, das Gespräch zu suchen, statt sich in gefühlter moralischer Überlegenheit von der Welt zu isolieren.

Meistgelesene Artikel