Die letzte Chance gegen eine „Lost Generation“
Georg Renner ist freier Journalist in Niederösterreich und Wien mit Fokus auf Sachpolitik. Er publiziert unter anderem für „Datum“ und „WZ“, zuvor war er nach Stationen bei der „Presse“, „NZZ.at“ und „Addendum“ Innenpolitikchef der „Kleine Zeitung“.
Diese Woche haben sie also endlich begonnen, die echten Regierungsverhandlungen. Ich würde ja gerne sagen, jetzt lassen wir ÖVP, SPÖ und Neos einmal ein paar Monate in Ruhe und schauen am Schluss, was herauskommt, aber so läuft das leider nicht.
Wir haben gerade kleine und mittelgroße Feuer an allen Ecken und Enden der Republik – vom Budgetdefizit bis zur eingeschnürten Wirtschaft, von kollabierenden Ökosystemen bis zu überfüllten Spitälern, von mangelnder Seuchenprävention bis zur dringend notwendigen Aufrüstung, und so weiter. Die kommende Regierung wird alle Hände voll zu tun haben, nur diese akuten Baustellen anzugehen, und genau darin liegt die große Gefahr, dass wir schon während der Verhandlungen langfristige Probleme übersehen.
Vermutlich die größte Bedrohung für den österreichischen Wohlstand ist die Demografie: Wie fast überall auf der Welt befindet sich die Geburtenrate in der Republik im freien Fall, wenn es nur nach ihr ginge, würde das Land längst schrumpfen – und sich die Probleme unserer Unternehmen darin potenzieren, ausreichend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finanzieren.
In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ist es Österreich einigermaßen passabel gelungen, diese Schrumpfung dadurch auszugleichen, dass massenhaft Menschen eingewandert sind und sich mit ihren Familien so integriert haben, dass auch ihre Kinder und Enkel hier arbeiten, sich selbst und der österreichischen Gesellschaft Wohlstand erarbeitet haben.
Aber dieser Motor ist ins Stocken geraten: Vor allem in den Städten, wo in den vergangenen Jahren der Großteil der Einwanderung stattgefunden hat, gibt es massive Probleme an den Schulen. Im Schuljahr 22/23 – dem letzten, zu dem es vollständige Daten gibt – waren zehn Prozent aller Volksschülerinnen und Volksschüler in Österreich „außerordentliche Schüler“: Das sind überwiegend jene, die nicht gut genug Deutsch können, um dem Unterricht zu folgen. In Wien waren es 17 Prozent, unter den Wiener Taferlklasslern sogar 35 Prozent.
Es ist kaum möglich, die Dramatik dieser Zahlen in Worte zu fassen. Mehr als jeder sechste Wiener Volksschüler und jeder dritte Erstklassler kann dem Unterricht nicht folgen, und in den anderen Landeshauptstädten schaut es nicht viel besser aus. Und fast das schlimmste: Viele dieser Kinder haben schon mehrere Jahre in österreichischen Kindergärten hinter sich.
Selbst wenn man – wie ich – Einwanderung grundsätzlich für eine gute Sache hält, von der wir eher mehr als weniger brauchen werden, muss man sagen: Das kann nicht gut ausgehen. Weder vom humanistischen Standpunkt, dass es den Kindern in diesen Schulen und ihren Familien gegenüber ungerecht ist, hier ohne eine vernünftige Bildung aufzuwachsen, noch vom utilitaristischen, dass hier eine für die österreichische Volkswirtschaft verlorene Generation heranwächst, ist dieser Zustand tolerierbar.
Theoretisch könnte sich die kommende Koalition auf den Standpunkt stellen, Kindergärten und Volksschulen seien Länder- und somit nicht ihre Sache. Aber das würde am Problem vorbeiführen, denn zumindest der Zustand der heimischen Wirtschaft, der Fachkräftemangel und die Frage, wer denn unser Sozial- und Pensionssystem finanzieren wird, wenn diese Kinder eines Tages zu Arbeitskräften werden sollen, ist eine von ganz Österreich.
Abseits aller anderen wichtigen Vorhaben braucht es eine nationale Kraftanstrengung, um diese Zahl „außerordentlicher Schüler“ in den nächsten Jahren deutlich zu senken. Mit entsprechenden Hilfen vom Bund, flexibleren Schulbudgets, Pflichten und Strafen für renitente Eltern und der Möglichkeit, Problemklassen weiter zu verteilen. Anders wird das nicht mehr gehen, um eine „Lost Generation“ zu verhindern – mit allen negativen Folgen in Wirtschaft, Sicherheit und sozialen Problemen.