Kontrapunkt von Martin Rhonheimer

Der Babysitter-Staat hat die Bürger entmündigt

11. April 2025Lesezeit: 7 Min.
Martin Rhonheimer Illustration
Kommentar von Martin Rhonheimer

Martin Rhonheimer, geboren 1950 in Zürich, ist Präsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy (Wien). Von 1990 bis 2020 lehrte er Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. Er ist u.a. Mitglied der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft, der Ludwig-Erhard-Stiftung und der Europäischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und schreibt regelmäßig in der NZZ.

Sie sind anekdotisch aber dennoch bezeichnend: die Proteste gegen Billigairlines, die auf ihren Portalen eine angeblich intransparente Preispolitik betreiben, weil sie nicht alle Kosten – etwa für Handgepäck, Check-In am Schalter – in den angebotenen Grundpreis einschließen und damit, wie es heißt, die Kunden täuschen. Man ruft nach Konsumentenschutz, konkret: nach dem Staat, der solche Praktiken verbieten und die Preispolitik der Airlines regulieren soll. Das spanische Ministerium für „Sozialrechte, Konsumentenschutz und Agenda 2030“ strafte im November letzten Jahres die Billigairlines Ryanair, Vueling, Easyjet, Norwegian y Volotea mit insgesamt 179 Mio. Euro ab. In Österreich hat nun aus ähnlichen Gründen die Arbeiterkammer Wien gegen die Billigairline Wizz Air geklagt – und gewonnen.

Der Babysitter-Staat

Offenbar hält man die Flugkunden für unmündig oder unfähig, aus eigenen Fehlern zu lernen. Man mag persönlich die Praktiken dieser Airlines so oder anders beurteilen; warum jedoch – liegt nicht eindeutiger Betrug vor – die Gerichte bzw. der Staat eingreifen sollen, ist schlicht und ergreifend nicht einsichtig. Die breite Akzeptanz für solche Eingriffe ist Symptom einer zunehmend infantilisierten Gesellschaft oder, noch zutreffender: sie entspricht der Psychologie des betreuten Bürgers, der mit Unsicherheiten und Risiken nicht mehr zurechtkommt und in allen Bereichen vom Staat abgesichert und geschützt werden will.

In Wirklichkeit wäre es ein Leichtes, die Praktiken der Billigairlines zu durchschauen und sie sogar zum eigenen Vorteil zu nutzen. So etwa könnte man dort – wäre es jetzt nicht verboten – ein großes Gepäckstück aufgeben, sich aber zugleich die Ausgabe für das kleinere 8-kg-Handgepäck sparen, das ja bei den „normalen“ Airlines auch dann im Economy-Grundpreis inbegriffen ist, wenn man zusätzlich ein Gepäckstück aufgibt. Tatsache ist jedoch: Der Europäische Gerichtshof hat 2014 entschieden, dass das Handgepäck – also auch der 8-kg-Trolley – unerlässlicher Bestandteil einer Reise ist und seine Beförderung in der Kabine deshalb im Grundpreis inbegriffen sein muss! Bei den Billigairlines hätte man, gäbe es dieses Urteil nicht, größere Gestaltungsfreiheit und Preisflexibilität. Aber mit Freiheit kann der betreute Bürger offenbar nur noch wenig anfangen.

Für einige mag die komplexere Preisgestaltung zunächst eine Überforderung sein. Wer darauf einmal hereinfällt, also erst etwas später merkt, dass das Schnäppchen doch etwas teurer ist als zunächst erwartet, hat die Möglichkeit, etwas dazulernen. Dazulernen ist eine sozial und psychologisch, auch ethisch, sehr vorteilhafte und empfehlenswerte Praktik, die jedoch der Staat heute offenbar den Bürgerinnen und Bürgern nach Möglichkeit abnehmen will. Die totale Betreuung schafft jedoch noch mehr Unsicherheit, sie gebührt eher Kindern – allerdings im letzteren Fall nicht durch den Staat, sondern durch ihre nächsten Erziehungsberechtigten, normalerweise die Eltern. Der betreute Bürger hingegen hat seine Sicherheit dem Staat überlassen – dem Sozialstaat, der eben über seine berechtigten Aufgaben hinaus Versorgungs- und Betreuungsstaat geworden ist. Die Angelsachsen nennen ihn „Nanny-State“, Babysitter-Staat.

Eindringen der öffentlichen Hand in alle Lebensbereiche

Der Vater des deutschen „Wirtschaftswunders“ Ludwig Erhard konstatierte bereits im Jahre 1957 (!) in seinem Buch „Wohlstand für alle“, das Sicherheitsgefühl der einzelnen Menschen habe „mit der Überantwortung seines Schicksals an den Staat oder an das Kollektiv nicht zugenommen, sondern abgenommen“. Der moderne Sozialstaat führe zum „sozialen Untertan“, zu einer Abhängigkeit der Menschen, die letztlich für die Absicherung aller Lebensrisiken nach dem Staat rufe. Abgesehen von der „Aufblähung der öffentlichen Haushalte“ habe dies weder zu einer „Vermehrung seiner Sicherheit, zu Bereicherung seines Lebens und oder zur Minderung der Lebensangstjedes einzelnen beigetragen“ – im Gegenteil.

Durch das Eindringen der öffentlichen Hand in alle Lebensbereiche, mit dem Ziel der sozialen Absicherung – sprich: Betreuung – wird die heute auch weite Teile der traditionellen Arbeiterschaft umfassende bürgerliche Mittelschicht, Rückgrat einer jeden freien Gesellschaft, ökonomisch geschwächt und moralisch-psychisch korrumpiert. Der gesunde Stolz, ein Leben in eigener Verantwortung zu führen, dafür auch Lebensrisiken zu tragen sowie Verantwortung für andere zu übernehmen – in der Familie, im zivilgesellschaftlichen Engagement – verkümmert, verschwindet zunehmend und wird als veraltet wahrgenommen.

Statistisch ist der Zusammenhang zwischen einem wachsenden Sozialstaat und vermindertem freiwilligen und kostenlosen gesellschaftlichem Engagement nachgewiesen. Letzteres ist – was fortgeschrittene Industriegesellschaften betrifft – in Australien und den USA am höchsten, in den südeuropäischen, mediterranen Welt am tiefsten. Das Maß an zivilgesellschaftlicher Solidarität, das man in den zunächst genannten Ländern erleben kann, erstaunt immer wieder, ist aber das Pendant zum weniger hochgezüchteten Sozialstaat. Auch in unseren Breitengraden wird Solidarität vor allem als Staatsaufgabe verstanden. Der Begriff „Subsidiaritätsprinzip“ ist den meisten zum unverständlichen Fremdwort geworden. Österreich lerne, und frage dich, woher dein chronisches Budgetdefizit und die exorbitante Steuerbelastung deiner Untertanen kommt!

Sozialquote und staatliche Schuldenwirtschaft

Denn schauen wir auf Österreich oder auch auf Deutschland, sehen wir, dass Absicherungs- und Betreuungsforderungen an den Staat die Politik und in der Folge auch die Staatsfinanzen dominieren. Ganze 43 Prozent des deutschen Bundeshaushalts etwa wurden gemäß letzten Daten für Sozialleistungen aufgewendet. In Österreich ist es nicht viel anders. Für zentrale Staatsaufgaben wie Verteidigung und Infrastruktur bleibt da kaum Geld übrig. Auch das umlagefinanzierte Pensionssystem muss aus Steuergeldern massiv nachfinanziert werden, denn auch hier hat der Sozialstaat zugeschlagen: Die umlagefinanzierte Altersvorsorge hat zur Verantwortungslosigkeit gegenüber der eigenen Zukunft geführt.

Das liegt in den Fehlanreizen des Umlagesystems. In Deutschland hielt Im Jahre 2005 ein Gutachten des wissenschaftlichen Beirates des (damaligen) „Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit“ (BMWA) fest, die Umlagerente verringere „die Anreize, selbst Kinder zur Welt zu bringen und aufzuziehen.“ Denn man erwirbt „einen Rentenanspruch schon dann, wenn man auf dem Wege der Beitragszahlung die Generation seiner Eltern finanziert. Dass man selbst Kinder hat, ist nicht wichtig. Ohne Kinder kollabiert jedoch das Umlagesystem.“

So entsteht im umlagefinanzierten Rentensystem mit seinen reproduktionsfeindlichen Anreizen ein wachsendes Loch, das mit Steuergeldern bzw. Schulden gestopft werden muss. Zudem ist deshalb auch die Familie ihrer für sie wesentlichen Vorsorgefunktion enthoben. Denn diese funktioniert erstens nur durch Vermögensbildung, die durch den intrinsisch inflationären – ständige Geldvermehrung durch Schuldenfinanzierung – und konfiskatorischen Sozialstaat – exorbitante Steuer- und Abgabenbelastung – verunmöglicht wird. Und zweitens funktioniert sie dadurch, dass die Familie – in der Regel, und auf die Regel kommt es an – durch die Erzeugung von Nachwuchs auch das Problem der Altenbetreuung soweit in den Griff bekommen kann, dass es nicht – wiederum als Regelfall – zur steuerfinanzierten und damit die Gesellschaft zusätzlich belastenden Staatsaufgabe wird.

Institutionalisierte Verantwortungslosigkeit

Ökonomen sprechen hier von „Crowding out“ „Verdrängung“: was der Staat macht, machen dann halt andere nicht mehr. Entweder weil die Notwendigkeit und Motivation dazu unterminiert wird oder weil es sich, will man es auf Bezahlbasis machen, nicht mehr rechnet. Folge ist die zunehmende Abhängigkeit der Menschen vom Staat, von der Politik, und eine Anspruchshaltung der Bürgerinnen und Bürger, die in einer Demokratie jeden Politiker, will er Wahlen gewinnen, zum Populisten werden lässt. Folge ist die institutionalisierte Verantwortungslosigkeit aller.

Im 19. Jahrhundert warnte der – durchaus kritische – französische USA-Bewunderer Alexis de Tocqueville in seinem zweibändigen Werk „Über die Demokratie in Amerika“ vor einem demokratischen Staat, der als „gewaltige, bevormundende Macht“ auftrete, „die allein dafür sorgt, ihre [der Menschen] Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild. Sie wäre der väterlichen Gewalt gleich, wenn sie wie diese das Ziel verfolgte, die Menschen auf das reife Alter vorzubereiten; statt dessen aber sucht sie bloß, sie unwiderruflich im Zustand der Kindheit festzuhalten.“

Das klingt prophetisch. Aufklärung tut not. Aufklärung, die ja Immanuel Kant bekanntlich definierte als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Die Frage ist nur, ob wir, eingelullt von den Annehmlichkeiten der staatlichen Rundumbetreuung, solche Aufklärung überhaupt wollen.

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