Das „Industriesterben“ ist auch ein massives Innovationsproblem

29. Mai 2024Lesezeit: 4 Min.
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Kommentar von Sara Grasel

Sara Grasel ist Chefredakteurin von Selektiv. Sie ist seit fast 20 Jahren Wirtschaftsjournalistin mit Stationen bei „Die Presse“, Trending Topics und brutkasten. Zuletzt war sie Chefredakteurin der Magazine der Industriellenvereinigung.

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„Leises“ Industriesterben. So titelte die deutsche Wirtschaftsauskunftei Creditreform die Ergebnisse einer Analyse zu Unternehmensschließungen in Deutschland. Das klingt beinahe wie etwas Wehmütig-Angenehmes – wer braucht sie schon die Industrie, wo „Übergewinne“ erwirtschaftet werden, die Viertage-Woche verschmäht wird und ja doch ohnehin nur CO2 entsteht. Lasst sie doch leise sterben. Ein Hoch auf den Strukturwandel hin zu digitalen Plattformen und Dienstleistungen. Da gibt es nur ein Problem: Es ist zu spät für Europa, auf den Zug der Internetplattformen aufzuspringen. Die großen Technologieunternehmen in diesem Bereich sind in den USA entstanden und haben ihre Pendants in China. Und, wie ein geflügeltes Wort besagt, das schon so manchem klugen Kopf in den Mund gelegt wurde: „Wir können nicht davon leben, uns gegenseitig die Haare zu schneiden.“ Die große Stärke der europäischen Wirtschaft sind innovative Industrieunternehmen. Genau die, die nun „leise“ sterben.

So leise ist das Phänomen übrigens gar nicht. Die Rahmenbedingungen in Europa und besonders in Industrieländern wie Deutschland und Österreich sind für die produzierende und exportintensive Industrie so schwierig geworden, dass eine schleichende Deindustrialisierung eingesetzt hat – eine Abwanderung also. Im Klartext: Die Unternehmen können hier nicht mehr wettbewerbsfähig produzieren – der Standort ist aus unterschiedlichen Gründen (Lohnstückkosten, Energie, etc.) zu teuer geworden, um am Weltmarkt eine gute Chance zu haben. So hoch die Qualität auch sein mag, der Preis ist und bleibt am Ende eben auch ein Faktor bei einer Kaufentscheidung. Das führt dazu, dass international aufgestellte Unternehmen ein neues Werk vielleicht eher in einer anderen Weltregion errichten. Die Arbeitsplätze entstehen dann dort und auch die Wertschöpfung. Das sieht man derzeit auch gut anhand der europäischen Industrieproduktion laut Eurostat – die ganz besonders in Österreich deutlich abnimmt. Die Industrieproduktion ist ein berechneter Index, der die Entwicklung der physischen (mengenmäßigen) Produktion abbildet. In einem Land, in dem jeder fünfte Steuereuro im Export erwirtschaftet wird (Steuereuros finanzieren den Sozialstaat!) und rund ein Viertel der Wertschöpfung auf die Industrie entfällt, ist dieser Abstieg wirklich kein Grund, leise zu sein.

Die neue Statistik aus Deutschland ist nun auch insofern bemerkenswert, weil es dabei nicht mehr „nur“ darum geht, dass neue Werke anderswo errichtet werden, also neue Investments in andere Ländern fließen. Das alleine ist wie dargelegt schlimm genug. Es geht in dieser Statistik um ein Zusperren vorhandener Standorte. Seit 2004 wurden in Deutschland im „verarbeitenden Gewerbe“ nicht mehr so viele Betriebe geschlossen wie 2023. In konkreten Zahlen waren es 11.000 und damit um 8,7 Prozent mehr als im Jahr davor. Die Anzahl der Schließungen im Baugewerbe ist im Jahresvergleich um 2,4 Prozent auf 20.000 Unternehmen gestiegen. Im Handel (minus 0,8 Prozent) und bei konsumnahen Dienstleistungen (minus 0,5 Prozent) ist der Trend hingegen leicht rückläufig.

Das leise Industriesterben ist nicht nur ein leiser Wohlstandsverlust. Sondern – und das ist mindestens ebenso alarmierend – offensichtlich auch ein Verlust an Innovationskraft. Ohne Fortschritt kein Wachstum und ohne Wachstum ist es kaum möglich, langfristig unsere Lebensqualität zu erhalten. Wachstum schafft die notwendigen Mittel für steuerfinanzierte Bildung, eine Gesundheitsversorgung für alle oder notwendige und moderne (sprich: klimaschonende) Infrastruktur. Das führt uns zurück zum Innovationsproblem, das durch das Industriesterben verstärkt wird. Innerhalb der Kategorie „verarbeitendes Gewerbe“ war bei der deutschen Analyse die Zahl der Schließungen mit plus 12,3 Prozent in forschungsintensiven Wirtschaftszweigen deutlich stärker als in nicht forschungsintensiven. Gemeint sind etwa Chemie- und Pharmaindustrie, Maschinenbau und technologieintensive Dienstleistungen. Noch schlimmer: dort stehen den Schließungen auch kaum Neugründungen gegenüber.

Zum „Schließungsreport 2023“ von Creditreform in Zusammenarbeit mit dem Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW): Download als PDF

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