Das Dogma der „Preisstabilität“ und die Politik des billigen Geldes (2. Teil)
Martin Rhonheimer, geboren 1950 in Zürich, ist Präsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy (Wien). Von 1990 bis 2020 lehrte er Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. Er ist u.a. Mitglied der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft, der Ludwig-Erhard-Stiftung und der Europäischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und schreibt regelmäßig in der NZZ.
Nach der Finanzkrise 2008 war das internationale Finanzsystem in Schieflage geraten, eine Katastrophe drohte. Daraufhin begann man, das Gift des billigen Geldes zur Medizin zu machen. Es mag sein, dass eine erste Liquiditätsspritze eine notwendige Nothilfe war, um den totalen und weltweiten Absturz des Finanzsystems zu verhindern. Doch wurde das billige Geld zur Dauernahrung für die Wirtschaft, die Banken, die Immobilienbranche und für die Aktienbörsen. Die Wiederholung des Irrtums der 1920er-Jahre, Preisstabilität als Ziel der Geldpolitik zu deklarieren, führte zudem dazu, erneut den Elefanten im Raum zu übersehen oder nicht sehen zu wollen.
Blasenwirtschaft und Wohlstandsillusion
Edward Chancellor dokumentiert in seinem vielgepriesenen Buch „The Price of Time“ (s. Teil 1) nicht nur, was vor 1929 geschah, er zeigt auch den durch das billige Geld – die künstlich zu niedrig gehaltenen Zinsen – heute angerichteten Schaden auf: Die Erzeugung einer Blasenwirtschaft. Blasen schaffen eine Wohlstandsillusion, weil die nominalen Werte nicht mit der Realität im Einklang stehen. Das billige Geld führt zur Finanzialisierung der Wirtschaft: So kaufen etwa Unternehmen mit billigen Krediten ihre eigenen Aktien zurück und treiben auf diese Weise deren Börsenwert hinauf, was die Gewinne aller Anteilseigner erhöht. Dies nicht aufgrund unternehmerischer Leistung im Bereich realer Wertschöpfung, sondern durch reine, oft hochspekulative Finanztricks. Die hohe Bewertung der Aktien ist damit eine Täuschung.
Eine weitere Wohlstandsillusion schafft der „carry trade“, Zinsdifferenzgeschäfte: Man holt sich Kredite dort, wo der Zins tief ist, z.B. in Japan, um damit in einem Umfeld mit höheren Zinsen wie in den USA zu investieren und auf diese Weise eine höhere Rendite zu erzielen. Das Verhalten ist natürlich völlig rational, die Irrationalität liegt, wie auch bei anderen solchen Techniken, im falschen Anreiz des zu billigen Geldes. In Wirklichkeit baut man damit aber ein Kartenhaus: Sobald die Zinsen für die Kredite steigen, fällt es in sich zusammen, wie es bekanntlich vor kurzem mit US-Aktien der Hightech-Branche geschah, die mit japanischen Niedrigzinskrediten finanziert worden waren – eine minimale Zinserhöhung in Japan führte zum Absturz. Es war nur eine momentane Reaktion, sie zeigt aber die Fragilität der mit billigem Geld errichteten Kartenhäuser.
Ähnlich läuft es im Immobiliensektor, der immer enger mit der Finanzwirtschaft verquickt ist: Wer schon Immobilien besitzt, nutzt diese gegenüber den Banken als Sicherheiten, um zu weiteren Krediten zum Fast-Nulltarif zu kommen, mit denen zugekauft und in der Folge noch mehr gehebelt wird. Die stetig steigenden Immobilienpreise treiben nicht zuletzt auch die Mieten in die Höhe und verhindern so, dass jüngere Menschen und Familien sich ein Eigenheim leisten können. Im Unterschied zu ihrer Elterngeneration ist dies den meisten heute ins Erwerbsleben Eintretenden kaum mehr oder nur nach einem viel längeren Zeitraum möglich. Und zwar gerade nicht, weil die Zinsen zu hoch, sondern weil sie zu niedrig sind und das billige Geld an die bereits Vermögenden – Aktien- und Immobilienbesitzer – verfüttert wird. Dies auf Kosten jener, die sich ein Vermögen erst aufbauen müssen, was für Normalsterbliche bei den niedrigen Zinsen kaum mehr möglich ist. Umverteilung von unten nach oben also.
Kaufkraftverlust: Die vielen Gesichter der Inflation
Das Verfolgen von Preisstabilität als vorrangiges Ziel der Geldpolitik ist ein Irrläufer, beruht auf einem geldtheoretischen Irrtum und ist schädlich. Richtig wäre, so scheint mir, eine Politik der Erhaltung, ja der Steigerung der Kaufkraft des Geldes und damit der Erhaltung und Steigerung des allgemeinen Wohlstands. Das geht nur durch echte Wertschöpfung, Innovation und Produktivitätswachstum, die eben – unter sonst gleichen Bedingungen – zu einem Sinken vieler Preise und damit auch des „Preisniveaus“ führt und damit die Kaufkraft des Geldes erhöhen. Inflation – Kaufkraftverlust – hat viele Gesichter, von denen jedoch viele infolge der Fixierung auf „Preisstabilität“ ausgeblendet werden.
So etwa die infolge der tiefen Zinsen in Schieflage geratenen Pensionsfonds und Lebensversicherungen, eine höchst unsoziale Folge des Politik des billigen Geldes. Sparen lohnt sich nicht, kapitalgedeckte Altersvorsorge ist praktisch unmöglich oder aber sehr riskant geworden, die Abhängigkeit von den wegen der sich wandelnden Demografie unterfinanzierten und mit Steuergeldern bezuschussten Umlagerenten und damit vom Staat wächst deshalb zunehmend. Anleger sind generell gezwungen, auf der Suche nach Rendite immer mehr ins Risiko zu gehen und tun das auch.
Der kreditfinanzierte Kunstmarkt, der immer mehr zum Feld von nach Rendite hungernden Investoren wird, boomt mit unerhörten Preisen. 2013 kauften laut Presseberichten 43 Prozent der vermögenden Kunstsammler Kunstwerke mit billigen Krediten. Ähnlich verhält es sich mit dem Bau von Luxuswohnungen mit gehebelten Krediten. Dieser bindet zudem Ressourcen der Bauwirtschaft und macht – neben anderen Gründen – Bauen generell zunehmend teurer, lässt aber auch Hypothekarkredite für die Banken riskanter werden. Auch auf diese Weise erhöht die Politik des billigen Geldes, das sich allmählich durch die Wirtschaft frisst, die Fragilität des Finanzsystems. Preisstabilität auf Kosten der Finanzstabilität ist die Folge.
Bekanntlich entstand durch das billige Geld auch eine stetig zunehmende „Zombifizierung“ der Wirtschaft. Immer mehr relativ unproduktive Unternehmen können sich praktisch zum Nulltarif refinanzieren und halten sich so als wandelnde Leichen – „Zombies“ –, über Wasser bzw. über dem Grab, dem Bankrott. Das bindet Ressourcen – darunter Fachkräfte –, die anderswo produktiver verwendet werden könnten, verursacht unnötige Knappheiten und verhindert damit Innovation und ein entsprechend höheres Produktivitätswachstum wie auch den damit verbundenen Anstieg der Reallöhne. Man nennt das auch „Reallohnrepression“. Zombifizierung verringert zudem die Anpassungsfähigkeit und Krisenresistenz der gesamten Wirtschaft und gefährdet das Bankensystem durch immer mehr potentiell insolvente Kunden. All das ist dem angeblichen so sozialen „billigen Geld“ geschuldet, das eben nicht dem „kleinen Manne“ nützt, sondern jenen, die auf diese Weise ohne jegliche Wertschöpfung zu hohen Renditen kommen.
Marktwidriger Interventionismus
Letztlich sind das alles Symptome von Inflation, einer schleichenden Geldentwertung, das heißt des Verlustes an Kaufkraft des Geldes bzw. einer Verhinderung Ihres Anstiegs. Dieser Diebstahl der Zentralbanken an der Kaufkraft des Geldes – und damit an den Bürgern – äußert sich deshalb nicht unbedingt oder ausschließlich in höheren Preisen, sondern auch in einer Verminderung des Wohlstandes der breiten Massen (bzw. der Verhinderung von dessen Anstieg). Und da die Reichsten nominal reicher werden, führt es auch zum Anwachsen der sozialen Ungleichheit, die ja gerade von Kritikern des Kapitalismus beklagt wird.
Doch nicht der auf Rendite bedachte Kapitalismus oder der „Neoliberalismus“ sind daran schuld, wie etwa die sich an Marx‘ Arbeitswertlehre orientierende italienisch-britische Starökonomin Mariana Mazzucato meint, sondern marktwidriger „Interventionismus“, in diesem Fall: die Manipulation des Zinses durch die Zentralbanken im Dienste politischer Agenden. Längst befinden wir uns in einer Situation der „fiskalischen Dominanz“, in der die Zentralbanken zum Erfüllungsgehilfen der schuldenfinanzierte Ausgabenpolitik der Regierungen geworden sind. So ermöglichen es die Zentralbanken mit immer neu „gedrucktem“ Geld den Staaten, ihre Ausgaben ständig zu vergrößern – damit aber auch ihre Schulden, die schon längst selbst zu einem der stärksten Inflationstreiber geworden sind.
Die klima- und industriepolitischen Agenden einzelner Staaten und der EU hat diese Tendenz noch verstärkt. Es wird mit dem billigen Geld über- und fehlinvestiert und Etikettenschwindel betrieben, wie in den USA der „Inflation Reduction Act“ der Biden-Regierung, mit dem unter dem Deckmantel der Inflationsreduzierung eine letztlich inflationäre Industrie- und Subventionspolitik betrieben wird. In der Klimapolitik kann es, wie viele meinen, der Staat angeblich besser. Wer zur Verringerung des CO2-Ausstoßes auf die im Vergleich zu Politikern viel schlaueren und den Steuerzahler viel weniger belastenden Mechanismen des Marktes und wettbewerbsgetriebene Innovation setzt, wird leicht als „Klimaleugner“ verunglimpft.
Unterdrückte Steuerungsfunktion des Zinses
Zu niedrige Zinsen – künstlich herabgesetzte Zinsen – sind kein nebensächliches Thema und auch keines, das nur Spezialisten angeht. Leider verstehen wir schon längst nicht mehr, was eigentlich ein „Zins“ und was seine Funktion ist. Zinsen werden heute als Hebel der Geldpolitik verstanden, der Steuerung der Konjunktur und eben der „Preisstabilität“. Doch können in einer funktionierenden und wohlstandsschaffenden Marktwirtschaft die Preise gar nicht „stabil“ sein, sie fluktuieren ständig. Deshalb macht es auch keinen Sinn, von einem „Preisniveau“ einer ganzen Volkswirtschaft zu sprechen, es handelt sich ja allein um einen statistischen Durchschnittswert.
Entscheidend sind die sektoriell und lokal differenzierten Preise und vor allem die „relativen Preise“, also Preise betrachtet in Relation zu anderen Preisen (z.B., um es vereinfachend zu sagen, Konsumgüterpreise im Vergleich zu den Preisen der diese herstellenden Maschinen, und die Preise dieser Maschinen – Kapitalgüter – in Relation zu den Preisen der für deren Produktion verwendeten Rohstoffe).
Wird dies übersehen, so wird auch die eigentliche Natur und Funktion des Zinses als marktwirtschaftlicher Preis und damit als Knappheitssignal missachtet. Wie alle Preise besitzt auch der Zins eine wesentliche Steuerungsfunktion. Er bestimmt nämlich den Aufbau der Produktions- bzw. Kapitalstruktur einer Volkswirtschaft über längere Zeiträume hinweg und damit die langfristige Profitabilität von Investitionen aller Art – mit allen auch sozialen Folgen für die Gesellschaft, insbesondere den Arbeitsmarkt. Wie Hayek 1976, also erneut seiner Zeit voraus, schrieb, werde mit der Politik des billigen Geldes der wichtigste Regulator des Marktes, nämlich das Geld selbst, seiner Regulierungsfunktion enthoben – ein Thema, das eine gesonderte Betrachtung lohnt.
Gefangen in der Politik des billigen Geldes
Tatsache und Fazit ist: Der Preisindex der Konsumgüter manifestiert nur einen Teil der Wahrheit. „Inflation“ bzw. „inflationäre Geldpolitik“ ist ein viel tiefer liegendes und umfassenderes, letztlich ein gesamtgesellschaftliches Problem, das auch unser Konsumverhalten und damit unseren Lebensstil betrifft. Nicht zuletzt wegen der einseitigen Fixierung der Zentralbanken auf „Preisstabilität“ sind diese – und wir alle – Gefangene der Politik des billigen Geldes geworden. Das zuzugeben, wäre meiner Meinung nach der erste Schritt, um ein Ende mit Schrecken zu vermeiden und aus dem Teufelskreis inflationärer Geldpolitik herauszukommen.
Geben wir uns keinen Illusionen hin: Auch die seit kurzem angehobenen Zinsen sind real – nach Abzug der Inflationsrate – immer noch extrem tief, zu tief. Sie verschleiern, dass wir zu viel konsumieren und zu wenig sparen. Die Lücke wird mit der Notenpresse ausgefüllt. Ein Kurswechsel ist nicht in Sicht, denn alle haben Angst vor einer Rezession wie der Teufel vor dem Weihwasser. Noch mehr Angst hat man berechtigterweise vor drohenden Staatsbankrotten infolge höherer Zinsen. Politisch kann man das, wie auch die Angst vor einer Rezession, nachvollziehen – für jeden heutigen Politiker wäre das Zulassen einer Rezession politischer Selbstmord.
Rein ökonomisch gesehen wäre eine Anpassungsrezession der notwendige Heilungsprozess, allerdings, verbunden mit hohen sozialen Kosten, die man für die Schwächsten so weit wie möglich abzufedern versuchen müsste. Eine notwendige Maßnahme bestünde gemäß dem Leipziger Wirtschaftsprofessor Gunther Schnabl auch darin – im Gleichschritt mit einer die Unternehmen zu höher Effizienz zwingenden Zinssteigerung – den enorm hohen Regulierungsdruck, der auf der Wirtschaft lastet, zu beseitigen und so unternehmerische Wertschöpfung durch Innovation und Produktivitätswachstum zu ermöglichen. Eine kapitalistische Wirtschaft braucht nicht „angekurbelt“ zu werden. Wird sie von ihren Fesseln befreit, kommt sie von allein in Gang.
Allerdings: Ein permanent nicht nur nominell, sondern real höheres Zinsniveau könnte zu Staatsbankrotten, in Europa möglicherweise gar zum Zusammenbruch des Eurosystems und zu nationalen Währungsreformen, damit aber auch zu gewaltigen Wohlstandsverlusten für alle führen. Damit stehen wir vor einem echten Dilemma. Denn geschieht keine sofortige Wende mit all ihren unangenehmen Folgen, werden die sozialen Kosten wie auch die politischen Risiken der Billiggeldpolitik auf lange Sicht wohl noch höher werden, und das ohne Aussicht auf Heilung und, im Falle eines Totalabsturzes, auch ohne Möglichkeit der Abfederung für die sozial Schwächsten. Das internationale Finanzsystem würde einen solchen Absturz zunächst einmal nicht unbeschadet überleben. Schadensbegrenzung würde voraussichtlich zu hohen Wohlstandsverlusten führen.
Aufklärung der Öffentlichkeit würde nottun, wie auch die Einsicht, dass die Probleme, die die Politik mit großem Tamtam zu lösen beansprucht, seit jeher zum größten Teil von ihr selbst verursacht werden. Nämlich durch einen verhängnisvollen Interventionismus, der die Kräfte des Marktes verzerrt, auf diese Weise für die marktwirtschaftlichen Akteure – Unternehmer, Investoren, Banken aber auch die Haushalte und damit die Konsumenten – systematisch falsche Anreize schafft und damit das eigentlich „Gesunde“, nämlich Kapitalismus und Marktwirtschaft, zu diskreditieren droht. Lässt sich das Steuer noch herumwerfen? Wohl nur, wenn man bereit ist, den Elefanten im Raum zur Kenntnis zu nehmen, darüber zu reden und entsprechend unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen. Theoretisch könnte dann eine Heilung in dosierten Schritten erfolgen. Doch Politik läuft bekanntlich anders.
Teil 1 – „Das Dogma der „Preisstabilität“ und die Politik des billigen Geldes“
Den ersten Teil von „Das Dogma der „Preisstabilität“ und die Politik des billigen Geldes“ von Martin Rhonheimer finden Sie hier:
Quellen und Leseempfehlungen
- Edward Chancellor, The Price of Time: The Real Story of Interest. Allen Lane, 2022 (Penguin Books 2023)
- Benjamin M. Anderson, Economics and the Public Welfare: Financial and Economic History of the United States, 1914-1946 (1949), 2nd Revised Edition, Liberty Fund Inc. 1980
- Friedrich A. von Hayek, Die Währungspolitik der Vereinigten Staaten seit der Überwindung der Krise von 1920 (Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik N.F. 5, 1925, 25-63; 254-317), in: F.A. Hayek, Gesammelte Schriften in deutscher Sprache Abt. A Band. 8 (hrsg. von Hansjörg Klausinger), Mohr Siebeck, 2015.
- Gunther Schnabl, Wege zu einer stabilitäts- und wachstumsorientierten Geldpolitik aus österreichischer Perspektive, Working Paper, No. 139, Universität Leipzig, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, 2015.