Kontrapunkt von Martin Rhonheimer

Das Dogma der „Preisstabilität“ und die Politik des billigen Geldes (1. Teil)

3. September 2024Lesezeit: 9 Min.
Martin Rhonheimer Illustration
Kommentar von Martin Rhonheimer

Martin Rhonheimer, geboren 1950 in Zürich, ist Präsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy (Wien). Von 1990 bis 2020 lehrte er Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. Er ist u.a. Mitglied der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft, der Ludwig-Erhard-Stiftung und der Europäischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und schreibt regelmäßig in der NZZ.

Preisstabilität sicherzustellen bzw. das Preisniveau zu stabilisieren, gilt als unumstrittenes Ziel der Geldpolitik. Es war in den 1920er Jahren auch das Ziel der US-amerikanischen Zentralbank (FED). Aus verschiedenen Gründen betrieb die FED ab dem Jahr 1924 eine expansive Offenmarktpolitik und pumpte gewaltige Geldmengen in den Wirtschaftskreislauf. Die durch die Geldflut nach unten gedrückten Zinsen ermöglichten es den Banken, immer mehr Kredite zu verleihen, während das Preisniveau beruhigend stabil blieb. Es entstand jedoch eine Kreditblase und im Gefolge eine Aktienblase. Die Wall Street geriet in Fieber, das Geld war für damalige Verhältnisse extrem billig, man investierte mit dem billigen Geld was das Zeug hielt, spekulierte und jagte den jüngsten Hypes nach, was die Preise der an den Börsen gehandelten Aktien in ungeahnte Höhen trieb, bis das System außer Kontrolle geriet. Nach zu späten Versuchen der FED, das Steuer mit Zinserhöhungen herumzureißen, brach die Börse Ende Oktober 1929 zusammen.

Börsencrash 1929: Preisstabilisierung gegen „gute Deflation“

Was als erster Benjamin M. Anderson 1949 in seinem Buch „Economics and the Public Welfare. A Financial and Economic History oft the United States“ beschrieben hat, ist hingegen Milton Friedman und Anna Schwartz in ihrer berühmten, 1963 veröffentlichten, „Monetary History of the United States 1867-1960“ entgangen. Die Autoren konzentrierten sich ausschließlich auf den Preisindex der Konsumgüter und meinten, vor 1929 habe es keinerlei Anzeichen von Inflation gegeben. Sie übersahen dabei die infolge technologischer Innovation und Produktivitätswachstum erzeugte deflationäre Entwicklung – sinkende Preise – und damit auch die durch die „Stabilisierung des Preisniveaus“ erzeugte Inflation, die sich eben nicht im Anstieg des Konsumentenpreisindexes äußerte. Wie die damaligen Akteure, achteten sie nicht auf den Elefanten im Raum, die Kreditblase und die dadurch erzeugte Vermögenspreisinflation.

Ganz anders der junge, von den Lehren der „Österreichischen Schule der Nationalökonomie“  geprägte Wiener Ökonom Friedrich A. Hayek, der 1925 – also mit 26 Jahren – von einem längeren Amerikaaufenthalt in seine Heimatstadt zurückgekehrt war. Er hatte in den USA das dortige Währungssystem, insbesondere das „Federal Reserve System“, studiert. In seinen frühesten Schriften zu den Themen Geldtheorie und Konjunkturzyklus aus den Jahren 1925 und 1929 – man kann sie in den von Hansjörg Klausinger vorzüglich edierten Bänden A8 und A9 von Hayeks „Gesammelten Schriften“ nachlesen –, warnte Hayek vor einer einseitigen Politik der „Stabilisierung des Preisniveaus“, weil man so inflationäre Kreditblasen übersehen könnte. Zudem erblickte er damals in der US-Notenbank FED einen Treiber einer solchen Politik. So hieß es denn auch in der offiziellen Begründung für die Verleihung des „Wirtschaftsnobelpreises“ 1974 an Hayek, er sei „wohl aufgrund dieser tiefgreifenden Analyse einer der wenigen Wirtschaftswissenschaftler gewesen, die vor dem großen Crash im Herbst 1929 vor der Möglichkeit einer großen Wirtschaftskrise warnten.“

Dass „Preisstabilität“ nicht der Weisheit letzter Schluss ist, heißt natürlich nicht, eine inflationäre Preisentwicklung sei kein Problem, im Gegenteil! Doch eine einseitig auf die „Stabilisierung des Preisniveaus“ konzentrierte Geldpolitik schließt eben auch die Bekämpfung sinkender Preise mit ein. Dies auch dann, wenn es sich um eine „gute Deflation“ (Hayek) handelt, die nicht – wie nach 1929 – durch eine depressive Kontraktion des Kreditvolumens und damit der Geldmenge verursacht wird, sondern technologischer Innovation und Produktivitätsfortschritten entspringt und damit zur ständigen Verbilligung von Konsumgütern, damit aber auch zu höheren Reallöhnen führt, was den Wohlstand der breiten Masse der Bevölkerung vergrößert.

Die ewige Versuchung des billigen Geldes

Das prominent von dem damaligen Starökonomen Irving Fisher vertretene und von der FED nach 1924 zum Prinzip ihrer Geldpolitik erhobene Dogma der Preisstabilität, gemessen aufgrund eines Indexes von Konsumgüterpreisen, ließ es auch den heutigen Notenbanken während der letzten drei Jahrzehnte als unbedenklich, ja sogar äußerst heilsam erscheinen, die Wirtschaft mit billigem Geld zu fluten. Heute allerdings wird Preisstabilität mit 2 Prozent Inflation definiert, ein riskantes und, wie der frühere FED-Vorsitzende Paul Volcker 2018 in seinen Memoiren schrieb, unsinniges Unterfangen, für das es keinerlei theoretische Argumente gebe.

Wie in den 1920er Jahren erzeugte auch die heutige Politik des billigen Geldes Kreditblasen und Vermögenspreisinflation. Man ignorierte sie, wie man auch die durch technologische Innovation und Produktivitätsfortschritte erzeugte deflationäre Preisentwicklung fehlinterpretierte, vor einer angeblichen Gefahr der Deflation warnte und so eine Begründung für die Intensivierung der Geldschwemme bieten konnte. Aktien und Immobilienpreise schossen in die Höhe und befinden sich weiterhin im Blasenmodus. Eine Katastrophe wie jene von 1929 wurde bisher mit immer weiterem billigem Geld hinausgeschoben.

Im Unterschied zu 1929 sind die Zentralbanken heute aktive Mitspieler. Denn bei Nullzinsen haben Geschäftsbanken, die mit Krediten bekanntlich neues Geld aus dem Nichts schöpfen, kaum mehr Anreize, solche zu vergeben. Der Impuls zur Expansion der Geldmenge kam nun direkt von den Zentralbanken. Die Politik der Zentralbanken führte auf diese Weise „zu einer impliziten Verstaatlichung des Geld- und Kreditmarktes“ (Gunther Schnabl). Die Kreditvergabe wurde zunehmend direkt durch die Geldpolitik bestimmt und kann nun, anders als in den 1920er Jahren, direkt durch die Notenpresse gesteuert und „stabilisiert“ werden.

Die Politik des billigen Geldes war schon immer eine Versuchung. Sie gefällt den Politikern, die ja von ihren teuren Versprechungen gegenüber bestimmten Wählergruppen und Lobbyisten leben, sie gefällt auch den im Finanzsystem Tätigen, die dadurch wichtiger werden und mehr verdienen. Sie gefällt aber auch Hochrisiko-Investoren und fördert generell ein wenig risikobewusstes Investitionsklima. Für die Masse der Konsumenten führt ein so erzeugter Boom zunächst zu Lohnerhöhungen und zur Ausdehnung der Konsummöglichkeiten und damit zur Illusion eines wachsenden Wohlstandes. Dahinter jedoch lauert die Inflation.

Die „normalen“ Bürger, die kaum Aktien oder Immobilien und damit auch keine Hebelmacht besitzen, um an das billige Geld heranzukommen, die ihr Geld auch nicht im Finanzsektor verdienen – also die „Mittelschicht“, zu der eigentlich heute alle, die nicht ganz oben sind, gehören –, sind längerfristig die Geschädigten, weil sich – darüber später – auch ohne sichtbare Preisinflation die Kaufkraft ihres Geldes stetig verringert. Inflationsgewinner ist – neben dem Finanzsektor selbst – zunächst einmal, wer große Vermögenswerte besitzt und deren Wert mit neuen, gehebelten Billigkrediten in die Höhe treiben kann. Allerdings nur solange die Party weiterlaufen kann, danach folgen Abschwung, Insolvenzen, Bankrotte.

Eine Blase nach der anderen

Wie der an Hayek und den „Österreichern“ geschulte britische Historiker, Finanzjournalist und frühere Investmentbanker Edward Chancellor in seinem 2022 erschienenen, äußerst lesenswerten Buch „The Price of Time. The Real Story of Interest“ zeigt, führte billiges – künstlich verbilligtes – Geld im Laufe der Geschichte immer zu Krisen, Verwerfungen und Wohlstandsverlusten. In jüngster Zeit begann diese Politik nicht erst mit der Finanzkrise und – in der Euro-Zone – mit der Euro-Rettungspolitik.

Die Politik des billigen Geldes hatte bekanntlich bereits um die Jahrtausendwende zur Dotcom-Blase geführt, später dann zur Subprime-Blase am US-Hypothekenmarkt, die 2007 platzte und dann im Jahr darauf das mit verbrieften faulen Hypothekarkrediten vergiftete internationale Finanzsystem zum Einsturz zu bringen drohte. Um das nach der Finanzkrise von 2008 in Schieflage geratene Finanzsystem zu retten, begann man das Gift des billigen Geldes zur Medizin zu machen.

Die FED stand damals unter der Leitung des – auf den „Magier“ der „sanften Landungen“ Alan Greenspan folgenden – Princeton-Ökonomieprofessors Ben Bernanke, ein Anwalt der Preisstabilisierung und von „Credit easing“ – sein Name für expansive Geldpolitik –, womit man mittels der Druckerpresse problemlos die Gefahr von Deflationen bekämpfen könne. Seine Nachfolgerin Janet Yellen leugnete 2016 bei einer öffentlichen Befragung hartnäckig, dass das billige Geld eine „bubble economy“ erzeugt habe. Wie Milton Friedman und Anna Schwartz 1963, schaute man auch über ein halbes Jahrhundert später nur auf das „Preisniveau“ der indexierten Konsumgüter.

Erstaunlicherweise hatte John Maynard Keynes – sechs Jahre vor seiner viel berühmteren „General Theory“ – im zweiten Band seiner 1930 erschienenen „Treatise on Money“ eher nebenbei, damit aber Hayeks frühere Analysen bestätigend, geschrieben: Wer zwischen 1925 und 1929 das Augenmerk allein auf den Preisindex richtete, habe keinen Grund gehabt, von Inflation zu sprechen; für jedermann hingegen, „der nur auf das Volumen der Bankkredite und die Aktienpreise schaute, sei klar gewesen, dass eine Inflation entweder im Gange oder bevorstehend war“ (S.190). Er selbst, so Keynes, habe vor dem Crash keine Inflation gesehen, weil er allein das Preisniveau der indexierten Konsumgüter im Auge gehabt habe.

Dass gerade Keynes, der bereits in den 1920er-Jahren eine Politik des billigen Geldes befürwortet hatte, kurz nach dem Crash von 1929 präzis das aussprach, was heutige Historiker der „Great Depression“ geflissentlich übersehen, stützt die Position seines damaligen Gegenspielers Hayek. Keynes gibt sogar – leicht widerstrebend – am gleichen Ort zu, dass es in dem Zeitraum zwischen 1925 und 1929 aufgrund des Produktivitätswachstums eine deflationäre Konsumgüterpreisentwicklung gab, „so dass gerade ein stabiles Preisniveau womöglich ein gewisses Maß an Konsumgüterpreisinflation manifestierte“.

Die Politik der Preisstabilisierung hatte trotz bester Absichten in die Irre geführt und letztlich unglaublichen Schaden angerichtet, so wie sie heute, unter neuen, eher ungünstigeren Vorzeichen, schädlich ist und auf längere Sicht nichts Gutes verheißt. Diese Schäden sind vielfältig (s. 2. Teil). Sie werden zumeist dem „Kapitalismus“ oder einer zu wenig regulierten Marktwirtschaft, kurz: dem „Neoliberalismus“ in die Schuhe geschoben. In Wirklichkeit jedoch ist die Ursache vor allem staatliche Intervention von oben. Ursache ist eine Geldpolitik, die immer mehr zum Erfüllungsgehilfen staatlicher Fiskalpolitik und ihrer Politik der zunehmenden Verschuldung geworden ist.

Dabei ist nicht nur das Ausmaß der Verschuldung der öffentlichen Hand, sondern auch das der privaten Haushalte der westlichen Wohlstandsgesellschaften enorm und besorgniserregend. Das billige Geld treibt – auf der Grundlage einer mit ebendiesem billigen Geld finanzierten exzessiven sozialstaatlichen Absicherung – einen „Konsumismus“ an, der Konsum vor allem auf Kredit und nicht aus Ersparnissen oder laufendem Einkommen finanziert. Sparen lohnt sich weder für Staaten noch für Private. Übermäßige private Verschuldung ist nicht weniger verhängnisvoll als öffentliche Verschuldung, zumal beide Arten der Verschuldung zusammenhängen und, wie Ökonomen gezeigt haben, die Inflation antreiben und verstetigen und deshalb geeignet sind, langfristig das Vertrauen in das Geldsystem zu zerstören.

Teil 2 – „Das Dogma der „Preisstabilität“ und die Politik des billigen Geldes“

Diese Analyse von Martin Rhonheimer besteht aus zwei Teilen – Sie haben den ersten Teil gelesen.

Quellen und Leseempfehlungen

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