ZeitGeschichten von Gerhard Jelinek

Auch Österreich hat eine unglückselige Tradition politischer Attentate

25. Juli 2024Lesezeit: 7 Min.
Kommentar von Gerhard Jelinek

Gerhard Jelinek ist ein österreichischer Journalist, Fernsehmoderator und Buchautor. Der Jurist und erfahrene Journalist gestaltete rund 70 politische und zeitgeschichtliche Dokumentationen und Porträts.

Mir scheint, jetzt geht es nicht mehr weiter.“

Ignaz Seipel

Auch Österreich hat eine unglückselige Tradition politischer Attentate. Im Juli 1934 wird der christlichsoziale Kanzler Engelbert Dollfuß von nationalsozialistischen Putschisten angeschossen. Er verblutet im Kanzleramt. Zehn Jahre zuvor, vor genau hundert Jahren schießt der Spinnereiarbeiter Karl Jawurek aus Pottendorf am Wiener Südbahnhof auf Bundeskanzler Ignaz Seipel. Der christlichsoziale Politiker wird schwer an der Lunge verletzt, überlebt aber den Anschlag. Dieses Revolverattentat verschärft die politische Aggression zwischen Rechts und Links weiter.

Der Balaton-Expreß fährt pünktlich elf Minuten nach sieben Uhr abends am Bahnsteig I des Wiener Südbahnhofs ein. Der Zug besteht nur aus vier Waggons und einer Lokomotive. Er kommt aus Wiener Neustadt. Ausflügler, die von ihrer Sonntagswanderung heimkehren, steigen aus. Vor dem letzten Waggon warten zwei Herren: der Leiter der Polizeiexpositur am Südbahnhof, Hofrat Seemann, und Bahnhofsvorstand Stöckl. Sie bilden das Begrüßungskomitee für den österreichischen Bundeskanzler. Seipel, der nur in Begleitung eines Kriminalinspektors und eines Journalisten reist, steigt gemächlich aus. Die Herren streben plaudernd der Bahnhofshalle zu. Der Bundeskanzler wird, wie das Neuigkeits-Welt-Blatt beobachtet, „von den zahlreichen Reisenden und Ausflüglern herzlich begrüßt“.

Plötzlich eine rasche Bewegung: Ein Mann springt über die Gleise, läuft auf den Bundeskanzler zu und feuert aus einem Revolver. Zwei Schüsse gibt er mit vorgestreckter Hand in Brusthöhe ab. Eisenbahner in ihrem blauen Arbeitsgewand stürzten sich auf ihn. Der junge Mann versucht, sich dem Zugriff der Männer zu entwinden. Die Eisenbahner brüllen ihn an: „Du Hund, auf unserm Bahnhof machst du so was?“ Der Attentäter umklammert seinen Revolver, schießt sich zweimal in die Brust und wird verletzt weggezerrt.

Prälat Ignaz Seipel hat an diesem frühsommerlichen Nachmittag im burgenländischen Neudörfl die Fahnenweihe des katholischen Burschenvereins beehrt, Ein Kanzler, und sei er noch so katholisch, hält keine Sonntagsruhe. Seipel gibt sich ungerührt, er beteuert, nicht getroffen worden zu sein und geht „festen Schrittes“ – wie Zeugen bemerken – über den Perron. Auf der Hauptstiege des alten Südbahnhofs sieht der Bundeskanzler, wie erregte Menschen auf den Attentäter einprügeln. „Nicht schlagen!“, ruft er.

In der Bahnhofsvorhalle verlassen Seipel die Kräfte. „Mir scheint, jetzt geht es nicht mehr weiter.“ Seine Begleiter stützen den Verwundeten und drängen ihn in die Polizeiinspektion. Dort, beim Öffnen der Tür, sackt der Bundeskanzler in sich zusammen. „Weit werde ich nicht mehr gehen können.“ Er wird ins Wachzimmer getragen und dort auf ein Sofa gebettet. Sein begleitender Kriminalinspektor knöpfen ihm das Kollar und das Hemd auf. Es ist blutgetränkt. Seipel klagt über drückende Schmerzen im Brustkorb. Auf der linken Seite, zwei Finger unterhalb des Schlüsselbeins, breitet sich ein blutunterlaufener Fleck aus, er stammt von einem Streifschuss.

Medizinische Hilfe lässt auf sich warten. Die Wiener Rettungsgesellschaft hat gerade keinen freien Krankenwagen. Aus dem St.-Josef-Kinderspital in der Wiedner Kolschitzkygasse eilt zu Fuß ein Arzt im weißen Mantel herbei. Er bringt Verbandszeug mit. Die Schusswunde wird ausgewaschen und notdürftig verbunden. Eile scheint nicht geboten. Mit der gebührenden Ehrerbietung wird dem verwundeten Regierungschef nahegelegt, sich im Spital behandeln zu lassen. „Bitte, das überlasse ich den Herren“, fügt sich das Schussopfer ins Unvermeidliche.

Der schwer verwundete Bundeskanzler wird schließlich auf einer Tragbahre ins nahe gelegene Wiedner Spital eingeliefert. Mittlerweile sind Wiens medizinische Koryphäen eingetroffen. Hofrat Anton von Eiselsberg gilt als bester Chirurg dieser Tage. Er übernimmt die Behandlung Seipels. Weil sein Zustand stabil ist, wird von einer Röntgenaufnahme abgesehen. Erst Tage später wird diese Untersuchung durchgeführt. Dabei zeigen die Bilder, dass ein Projektil die rechte Lunge durchschlagen hat. Die Kugel ist im Lungenlappen steckengeblieben. Die Ärzte entscheiden, keine Operation zu wagen.

Der Anschlag auf den christlichsozialen Bundeskanzler erregt Wien und führt zu wilden politischen Attacken. Denn schon bald wird bekannt, dass der 24-jährige Attentäter Karl Jawurek Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei ist und häufig auf Parteiversammlungen gesehen wurde. Der Spinnereiarbeiter aus Pottendorf gesteht schon bei den ersten Einvernahmen die Tötungsabsicht. Er habe aus Verzweiflung Selbstmord begehen wollen und dabei Dr. Seipel, den er für sein Leid verantwortlich macht, „mitnehmen“ wollen.

Die ersten Reaktionen auf die Revolverschüsse vom Südbahnhof spiegeln das aufgeheizte politische Klima dieser Jahre wider. Prälat Ignaz Seipel ist die alles dominierende Politikergestalt der frühen 1920er-Jahre. Der katholische Priester, der auch als Bundeskanzler immer in schwarzer Soutane auftritt, wirkt nicht besonders volkstümlich, aber er wird geschätzt, mehr noch: geachtet. Frei von persönlichen Eitelkeiten führt Seipel nach dem Bruch der „großen Koalition“ zwischen Christlichsozialen und Sozialdemokraten seit vier Jahren eine Koalitionsregierung der Christlichsozialen mit den bürgerlichen großdeutschen Parteien.

Nach dem als Demütigung empfundenen Friedensvertrag für Österreich in Saint-Germain gilt es, den Kleinstaat einigermaßen zu stabilisieren. Regierungschef Seipel versucht, von den einstigen Feinden der „Entente“ einen Kredit zu erhalten.

Nach langen Verhandlungen garantieren Frankreich, Italien, Großbritannien und die Tschechoslowakei im Oktober 1922 in den Genfer Protokollen die „Völkerbund-Anleihe“. Der Großteil der 700 Millionen wird in London und an der Wall Street gezeichnet. Entgegen allen düsteren Prognosen vertrauen die internationalen Anleger der Alpenrepublik. Die Anleihe, die mit zehn Prozent verzinst wird, ist mehrfach überzeichnet. Österreich muss aber harte Bedingungen akzeptieren. So werden alle Zolleinnahmen verpfändet und die Republik de facto finanziell entmündigt. Die Regierung verpflichtet sich, Hunderttausend Beamte zu entlassen. Davon wird zwar keine Rede sein, in guter österreichischer Manier werden die Zahlen „schöngerechnet“, indem die Post- und Bahnbediensteten „ausgegliedert“ werden. Unterm Strich baut die Republik in den kommenden Jahren aber doch 25.000 Beamte ab. Die eigentliche Sanierung des Staatshaushaltes erfolgt – wie so oft – durch neue Steuern. Erstmals wird eine allgemeine Warenumsatzsteuer in der Höhe von zwei Prozent eingeführt.

Die oppositionellen Sozialdemokraten laufen Sturm gegen die internationale Anleihe, weil Österreich ein weiteres Mal auf einen Anschluss ans Deutsche Reich verzichtet. Und weil die internationalen Gläubiger einen harten Sparkurs durchsetzen. Diese „Entmündigung“ Österreichs kommt dem christlichsozialen Kanzler gar nicht ungelegen. So können die Konsequenzen der wirtschaftlichen Sanierung dem „Ausland“ zugeschoben werden. Mit dem Rückenwind der „Genfer Sanierung“ segelt Ignaz Seipel bei den vorgezogenen Nationalratswahlen im Oktober 1923 zu einem Sieg.

Karl Jawurek ist ein Verlierer. Er ist nicht arbeitslos, aber die Pottendorfer Spinnerei beschäftigt den ungelernten Hilfsarbeiter nur noch an vier Tagen. Seine Frau hat gerade ein zweites Kind bekommen. Jawurek soll für sie nach Baden fahren und dort eine „Stillprämie“ kassieren. Das tut er auch, fährt mit dem Geld aber nicht zu seiner Frau heim, sondern beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen.

Ehe er sich mit dem Trommelrevolver erschießt, möchte Jawurek noch etwas erleben. Er geht in ein Wirtshaus essen und besucht anschließend ein Freudenhaus. Dann besteigt er einen Zug Richtung Graz, wo er speist, nächtigt und mit dem Geld, das eigentlich für seine Frau bestimmt ist, abermals zu einer Prostituierten geht. Auf der Rückfahrt von Graz steigt er in Bruck an der Mur aus und besucht zum dritten Mal ein Bordell, eilig hat er es nicht. Jawurek erfährt am Bahnhof, dass Bundeskanzler Seipel mit dem Balaton-Express nach Wien abfahren wird. In einem Wirtshaus verfasst Jawurek einen Abschiedsbrief, den er an seine Frau expedieren lässt und in dem er den Mordversuch ankündigt: „Wenn es gelingt, geht noch einer mit mir, der Seipel.“ Jawurek wartet auf den Zug, in den der Bundeskanzler einsteigen soll. Er hat einen Mordplan, er wird es tun.

Im Dezember 1924 wird der geständige Attentäter Karl Jawurek vor einem Wiener Schöffensenat wegen Mordversuchs angeklagt. Er ist glaubhaft reuig. „Gutmachen tät ich’s wollen, wie wenn’s gar ned g’schehn wär.“ Das Schöffengericht verurteilt den Arbeiter zu einer sehr milden Strafe von fünf Jahren Kerker. Die Wiener Stunde kommentiert am 2. Dezember das Urteil: „Ein armer Mensch, dem das Leben alles schuldig blieb, den es in Elend, Verzweiflung und Unkultur warf und dessen Leidenschaften plötzlich explodierten. Er wollte töten und er wollte selbst sterben; es ist ihm glücklicherweise mißlungen.“ Bei seiner vorzeitigen Haftentlassung werden Jawurek 400 Schilling ausgehändigt. Sein Opfer, Ignaz Seipel, hat sie hinterlegt.

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