Alles, nur keine Visionen!

3. Oktober 2024Lesezeit: 3 Min.
Kommentar von Georg Renner

Georg Renner ist freier Journalist in Niederösterreich und Wien mit Fokus auf Sachpolitik. Er publiziert unter anderem für „Datum“ und „WZ“, zuvor war er nach Stationen bei der „Presse“, „NZZ.at“ und „Addendum“ Innenpolitikchef der „Kleine Zeitung“.

Die Lage ist folgende: Wir, die Bürgerinnen und Bürger haben der Politik mit dem Wahlergebnis am vergangenen Sonntag ein buntes Puzzle in Einzelteilen auf den Boden geworfen. Die Parteien müssen sich jetzt – ein bisschen, aber nicht zu sehr – daran machen, diese Teile zu einem möglichst sinnvollen Ganzen zusammenzubauen. Und das wird dauern, bis da ein schönes Bild entsteht; zuerst wird einmal ausgiebig sortiert, betastet und ausprobiert, welche Teile auch nur theoretisch zu welchen passen können.

Das wird dauern. Und wenn dann am Ende dieses gespannten Betastens und Verhandelns eine – hoffentlich – stabile Koalition steht, wird die Versuchung ihrer Spindoktoren groß sein, sie zum großen Wurf zu erklären. Egal, ob der Chef dort Herbert Kickl oder Karl Nehammer heißt und welche Parteien sie umfasst, sie alle werden beschwören, die Zeichen der Zeit nach dieser Schicksalswahl erkannt zu haben – und mit der neuen „Reformkoalition“, der Titel ist wohl gesetzt, darauf zu antworten.

Dem sollten die kühlen Köpfe in den Verhandlerteams schon jetzt entgegentreten; denn niemand sollte in die nächste Regierung mit der Erwartung gehen, durch all die hehren Pläne für sie am Sonntag verlorene Wähler zurückzuholen oder neu gewonnene zu binden. Denn der Regelfall in Österreich ist: Regieren macht niemanden groß.

In den vergangenen vier Jahrzehnten hat es genau zwei Wahlen gegeben, bei denen beide bisherigen Koalitionspartner Stimmanteile dazugewinnen konnten. Und beide Male, 1995 und 2017, war das nur deswegen der Fall, weil sich die Partner gerade den Krieg erklärt, die Zusammenarbeit aufgekündigt und in Neuwahlen geflüchtet hatten. Bei jeder anderen Nationalratswahl hatten die bisherigen Koalitionspartner zusammen am Ende weniger Prozente stehen als bei der vorangegangenen.

Das ist kein Bug, sondern ein Feature unseres Systems. Republik bedeutet, dass die Macht im Staat sich verschiebt, dass eben nicht immer dieselben an der Spitze stehen. Und das passiert, weil Regieren zwingend Kompromisse mit sich bringt. Ganz egal, wer in ein paar Monaten die nächste Koalition stellt: alle Beteiligten werden auf viele ihrer Wünsche verzichten müssen, um an die Mehrheit zu kommen, die sie sich wünschen. Die SPÖ wird in einem Pakt mit der ÖVP keine Vermögenssteuer bekommen, die FPÖ keine „Festung Österreich“ bauen können, und so weiter – genau solche Kompromisse sind dann langfristig Grundlage für die nächste Wahlniederlage, weil sie die Wähler enttäuschen, denen genau diese Visionen versprochen worden sind.

Was folgern wir daraus: Statt lange zu überlegen, wie man eine Koalition als „Reformkoalition“ oder sonstwie inszenieren kann – wer hat nicht mehr das soeben sehr prosaisch zu Ende gegangene „beste beider Welten“ im Ohr? – und welche großen „Leuchtturmprojekte“ Österreich jetzt braucht, sollten die präsumptiven Koalitionspartner es pragmatisch angehen.

Das heißt: Zuallererst müssen sie es als ihren Auftrag sehen, die enormen Herausforderungen zu lösen, vor denen die Republik steht. An erster Stelle muss stehen, die österreichische Wirtschaft wieder zum Wachsen zu bringen – denn gelingt das nicht, schrumpfen die Staatseinnahmen. Und schrumpfen die Staatseinnahmen, fehlt der Republik der Spielraum, alle anderen Probleme zu bewältigen. Weiters braucht es Pläne für die ökologische Transformation, die demografische Herausforderung bei Pensionen und Migration und für ein Bildungssystem im 21. Jahrhundert.

Das alles ist das Pflichtprogramm für die nächste Regierung – und schöne Worte und Leuchttürme, die vom ersten Moment an vor der nächsten Wahl zittern, werden es nicht leisten. Harte, seriöse Arbeit schon.

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