BusinessEurope-Präsident Markus Beyrer am Salzburg Summit 2024 © IV
BusinessEurope-Präsident Markus Beyrer am Salzburg Summit 2024 © IV
Interview

Industrie-Experte: EU soll „übermoralisierende Haltung“ überdenken

Wenn man sich die Wirtschaftspolitik aus Brüssel der vergangenen Jahre ansieht, könnte man meinen, dass die Industrie vergessen wurde. Das Ergebnis sind nun deutliche Schwächen in der Wettbewerbsfähigkeit.

Markus Beyrer: Es wurden viele Dinge in den Vordergrund gerückt, ohne zu bedenken, dass am Ende des Tages die Wirtschaft und die Industrie funktionieren müssen, um diese Dinge zu ermöglichen. Vor drei Jahren haben die Rankings noch nicht so schlecht ausgesehen und uns wurde Alarmismus vorgeworfen. Aber jetzt sieht man deutlich, dass wir überall zurückfallen: beim Wachstum, der Produktivitätsentwicklung, Investitionen und auch Beschäftigung in der Industrie. In den drei Jahren von 2019 bis 2022 haben wir europaweit in der Produktion rund 900.000 Jobs verloren. Mittlerweile wurde das verstanden und von Ursula von der Leyen auch auf die strategische Agenda der EU gesetzt. Wir müssen die strukturellen Wettbewerbsnachteile gegenüber unseren globalen Mitbewerbern rasch reduzieren, die Energiekosten senken und bürokratischen Mehraufwand für Unternehmen vermeiden.

Da gibt es das Ziel, die Berichtspflichten um 25 Prozent zu reduzieren und gleichzeitig treten Dinge wie die Lieferkettenrichtlinie in Kraft, die noch mehr Berichtspflichten bedeutet. Wäre es nicht besser, diese Bürokratie gar nicht erst aufzubauen?

Natürlich ist es besser, keine neuen Hürden zu produzieren. Die Lieferkettenrichtlinie ist ein gutes Beispiel für die übermoralisierende Haltung, die hinter solchen Regelungen oft steckt. Natürlich müssen wir unsere Werte verteidigen, aber wir sollten uns genau überlegen, welche Werte das im Kern sind und nicht mit so weit ausladenden Regelungen in der Welt auftreten. Der globale Süden bezeichnet vieles, was wir tun, als regulatorischen Neokolonialismus. Ich hoffe, dass im kommenden Draghi-Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit empfohlen wird, den gesamten Rechtsbestand der EU einem Check zu unterziehen, um die Dinge zu vereinfachen. Wir können Vorschläge machen, aber wirklich effizient wäre, wenn sich auch die einzelnen Dienststellen verantwortlich fühlen würden, Belastungen zu reduzieren. Wir müssen es im Herbst schaffen, Unternehmen wieder zu signalisieren, dass es sich auszahlt, in Europa zu investieren. Viel Hoffnung liegt auf dem Clean Industrial Deal, der für die ersten 100 Tage angekündigt wurde. Die jüngste Rede von Kommissionspräsidentin von der Leyen lässt zudem ein erstes Bekenntnis zu Bürokratieabbau und Verzicht auf Micromanagement erkennen – das gibt ebenfalls Hoffnung auf ein Umdenken. Heuer ist das Jahr, in dem wir durch konkrete Schritte zeigen müssen, dass es wieder in die richtige Richtung geht.

Markus Beyrer

Markus Beyrer ist seit 2013 Generaldirektor des Industrie-Dachverbands BusinessEurope in Brüssel. Davor war er Vor­stand der Öster­reichischen Industrie­holding AG, Ge­ne­ral­sekretär der Industriellen­vereinigung und Leiter der Ab­tei­lung Wirt­schafts­politik der Wirtschafts­kammer. 1999 bis 2002 war Beyrer wirt­schafts­politischer Berater im Kabi­nett des Bun­­des­kanz­lers Wolfgang Schüssel.

Es gibt durchaus Menschen, die einer Deindustrialisierung Europas im Sinne einer steigenden Bedeutung (digitaler) Dienstleistungen etwas abgewinnen können. Das sei gut für die Umwelt und schaffe hochqualifizierte Jobs. Was entgegnen Sie?

Ich würde sagen, das ist sehr naiv. Natürlich muss die Digitalisierung vorangetrieben werden, aber letztendlich kommt der Wohlstand in Europa von der Industrie. Länder mit einem niedrigen Anteil der Industrie an der Wertschöpfung sind die ersten, die von Krisen stark getroffen werden.

Das Wachstum findet derzeit nicht in Europa statt. Handelsabkommen könnten uns als exportorientierter Volkswirtschaft Zugang zu wachstumsstarken Regionen wie den USA oder China sichern. Solche Abkommen sind in Europa aber hartnäckig unpopulär.

Ich glaube, wir brauchen jedenfalls eine ambitionierte Außenhandelsagenda. Wir stehen für nicht einmal sechs Prozent der Weltbevölkerung. Bis zu 90 Prozent des Wachstums findet außerhalb Europas statt – wir brauchen also eine Diversifikation unserer Absatzmärkte. Wir brauchen aber auch für die Beschaffung starke Partner. Bei kritischen Rohstoffen können wir unseren Bedarf maximal zu zehn Prozent innerhalb Europas decken. Das heißt, 90 Prozent müssen wir importieren. Um in diesem Bereich nicht einseitig von China abhängig zu sein, muss man diversifizieren. Das heißt, dass man mit vielen Seiten Abkommen abschließen muss. Im besten Fall vollinhaltliche Freihandelsabkommen mit Rohstoffkomponente, es können aber auch reine Rohstoffabkommen sein.

Welche Länder haben Sie im Sinn?

In den letzten fünf Jahren waren wir nicht erfolgreich genug dabei, neue Abkommen abzuschließen. Chile war ein wichtiges Abkommen – vor allem für Lithium und Kobalt –, hat aber viel zu lange gedauert. Neuseeland ist uns gelungen – das war auch wichtig, ist aber von den Dimensionen her nicht das größte Abkommen. Kenia ist die dritte Partnerschaft, die uns in den letzten Jahren gelungen ist. Das war ein strategisch wichtiger Schritt in Afrika. Sonst schaut es schlecht aus. Bei den Abkommen mit Australien und Indien geht nicht viel weiter. Dass wir bei Mercosur anstehen, ist unverständlich. Das ist der größte Markt, zu dem wir Zugang bekommen könnten und das Abkommen ist im Wesentlichen fertig verhandelt. Das ist eine Chance, die wir nutzen müssen und die nicht größer wird. Denn China wird dort jeden Monat, den wir nicht präsent sind, stärker. Es gibt eine lange Liste, die wir abarbeiten sollten – Indonesien, Indien, eine Modernisierung des Abkommens mit Mexiko.

Wie sollten wir mit den USA und China umgehen?

Mit beiden haben wir keine Abkommen. Deshalb wäre es wichtig, die Welthandelsorganisation WTO funktionstüchtig zu halten, weil wir mit diesen großen Märkten über WTO-Standards handeln.

Reichen diese Standards für den Umgang mit China?

Es ist klar, dass China für Europa ein wichtiger Markt bleiben wird. Wir müssen mit China die richtige Balance finden – die Asymmetrien im Verhältnis der beiden Wirtschaftsräume haben zugenommen. Deshalb ist es legitim, dass man unter Einhaltung von internationalem Handelsrecht Maßnahmen ergreift, wie das auf EU-Ebene nun in verschiedenen Bereichen stattfindet. Aber das sollte nicht zur Eskalation führen.

Boris Johnson hat bei seinem Auftritt am Salzburg Summit den Brexit verteidigt, gleichzeitig aber gesagt, dass er nicht generell für einen EU-Austritt wirbt und Österreich ganz andere Voraussetzungen hat. Hat die EU nur für kleine Länder Vorteile?

Ganz sicher nicht. Man sagt ja, dass es in der EU nur zwei Arten von Mitgliedsstaaten gibt: die kleinen und die, die noch nicht kapiert haben, dass sie klein sind. Global gesehen sind alle europäischen Länder klein oder mittelgroß. Wir können nur gemeinsam vorwärts kommen – jeder für sich wäre auf der Weltbühne verloren. Es ist mit freiem Auge erkennbar, dass die Entwicklung Großbritanniens außerhalb des Binnenmarktes keine besonders positive ist.

Johnson sagte auch, die Briten hatten einfach keine Lust mehr auf die EU, sie wollen Briten sein und nicht in erster Linie Europäer. Ist das ein Grundproblem der Europäischen Union?

Wir werden in Europa zwar in manchen Bereichen Integrationsschritte setzen und das ist die richtige Richtung. Aber ich bin ein österreichischer Europäer. Das bedeutet, dass ich als überzeugter Europäer dennoch erst einmal Österreicher bin. Das ist das Bauschema Europas. Das macht viele Dinge vielleicht manchmal kompliziert, aber es ist auch eine Stärke, die uns von Ländern wie den USA und vor allem China unterscheidet. Wir haben eine demokratische Kontrolle, die uns Dinge aus unterschiedlichen Blickwinkeln diskutieren lässt.

Sprechen wir noch ein wenig über Ihren Job. Um Lobbying in Brüssel ranken sich viele Mythen.

Wir vertreten als Interessenvertretung in Brüssel die gesamte europäische Wirtschaft. Dass mit uns gesprochen wird, ist also klar. Nur etwa die Hälfte der Termine bei Kommissaren, Kabinettschefs und Generaldirektoren wird von uns angesucht – oft werden wir eingeladen. Wir entwickeln Positionen in einem sehr strukturierten System, in dem wir ungefähr 1300 Experten koordinieren und führen unterschiedliche Meinungen aus den Mitgliedstaaten zu einer schlagkräftigen Meinung zusammen. Auf europäischer Ebene sind wir auch Sozialpartner.

Stichwort: BusinessEurope

BusinessEurope ist der europäische Dachverband der Arbeitgeber- und Industrieverbände europäischer Länder. BusinessEurope wurde 1958 gegründet und vertritt in Brüssel mittlerweile 42 Verbände aus 36 Ländern. Eine bedeutende Rolle spielt der Verband als Partner im Europäischen Sozialen Dialog.