Wird Österreich aufgrund des EU-Mercosur-Abkommens bald von „Billig-Importen überschwemmt“ oder ist es gerade in global unsicheren Zeiten von Kriegen und Handelskriegen ein wichtiger Turbo für unsere schwächelnde Export-Industrie? Im Interview mit Selektiv ordnet Wifo-Außenhandels-Experte und Universitätsprofessor Harald Oberhofer die Vor- und Nachteile des umstrittenen Freihandelsabkommen ein und zieht eine Kurzbilanz über das erste Amtsjahr des argentinischen Präsidenten Javier Milei.
Am Freitag konnte eine Einigung zwischen der EU und vier der Mercosur-Staaten (Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay) erzielt werden – wann wird es den finalen Vertrag geben?
Harald Oberhofer: Das liegt grundsätzlich bei der EU-Kommission. Da sich aber von der Grundstruktur des Vertrages aus 2019 nicht viel geändert hat, sondern maximal einige Klausen oder Ausnahmen zusätzlich hinzugekommen sind, sollte das doch relativ schnell gehen. [Anm.: Kurz nach Erscheinen des Interviews wurde der Volltext publiziert.]
Wie könnte der Mercosur-Vertrag dann in Umsetzung kommen: Wird er in einen handelspolitischen Teil und einen politischen Teil aufgesplittet, um das Handelsabkommen schneller in Kraft setzen zu können?
Das ist eine politische Frage. Jene, die das Mercosur-Abkommen ablehnen wollen, werden dagegen sein, es zu splitten. Jene, die es retten wollen, werden für ein Splitting sein. Es ist jetzt schwer einzuschätzen, was die genaue Strategie der EU-Kommission ist. Das Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA) ist zum Beispiel nicht aufgesplittet. CETA ist seit über 7 Jahren nicht vollständig ratifiziert, daher sind nur die handelspolitischen Teile vorläufig in Kraft. Durch CETA hat man gelernt, dass allumfassende Abkommen – welche auch nationale Kompetenzbereiche betreffen – es noch viel schwieriger haben, in Europa politisch durchzukommen. Daher hat man das EU-Japan-Abkommen (JEFTA) dann gesplittet – dort ist das Freihandelsabkommen in Kraft, aber das politische Abkommen hat man mehr oder weniger auf Eis gelegt. Die Chance, das EU-Mercosur-Abkommen durchzubringen, ist sicher höher, wenn es auch aufgesplittet wird.
Wenn ein Abkommen wie CETA vorübergehend in Kraft tritt, kann es dann auch wieder außer Kraft treten?
CETA wurde eben als gemischtes Abkommen ratifiziert, somit müssen es auch alle Nationalstaaten und teilweise auch Regionalparlamente ratifizieren. Das bedeutet: Sollte CETA von einem Mitgliedstaat abgelehnt werden, ist eigentlich der Gesamtvertrag abgelehnt. Diese Frage könnte uns relativ bald beschäftigen. In Frankreich gab es heuer eine Abstimmung im Senat, wo es eine Mehrheit gegen das CETA-Abkommen gab. In der Nationalversammlung wurde daraufhin die Abstimmung verschoben. Sollte das tatsächlich schlagend werden, haben wir einen Fall, der so noch nie eingetreten ist. Was dann zu tun ist, ist aus heutiger Sicht unklar.
Österreichs Minister sind durch einen Beschluss von 2019 zumindest vorerst noch zur Ablehnung des EU-Mercosur-Abkommens verpflichtet. Auch jetzt hat Kanzler Nehammer schon verlautbart, dem politischen Teil nicht zustimmen zu wollen – womit er wohl von einem Splitting ausgeht. Rechnen Sie mit einer Zustimmung Österreichs?
Wenn man sich die Positionen der Parlamentsparteien anschaut, dann gibt es wohl nur eine, die eindeutig für das Abkommen ist (Anm.: Neos) und alle anderen sind zumindest kritisch bis ablehnend. Es wird also relativ schwierig sein, in Österreich eine Mehrheit für das Abkommen zu finden, was aber im Falle eines Splittings für das reine Handelsabkommen nicht notwendigerweise entscheidend ist.
Wie beurteilen Sie die Auswirkungen auf Österreich? Wie groß sind die Nachteile, die den Bauern drohen würden – wie groß die Vorteile, die die Industrie hätte? Kann man diese gegeneinander aufwiegen?
Ein Freihandelsvertrag ist im Regelfall symmetrisch, es werden auf beiden Seiten Handelsbarrieren abgeschafft. Die Liberalisierung bei Industriegütern ist sehr weitreichend, was typisch für EU-Handelsabkommen ist. Die EU wird nach dem Entwurf von 2019 alle Zölle auf Importe von Industriegütern aus den Mercosur-Staaten innerhalb von zehn Jahren abschaffen. Umgekehrt sollen von der Liberalisierung seitens Mercosur 90 Prozent aller EU-Exporte von Industriegütern profitieren. Das zeigt, dass die Wettbewerbsposition der EU-Wirtschaft bei Industriegütern stärker ist und es insofern auf der Mercosur-Seite weniger Liberalisierung gibt. Bei der Landwirtschaft ist es umgekehrt: Hier schaffen die Mercosur-Staaten 93 Prozent der Zölle auf EU-Exporte ab – die EU liberalisiert aber nur 82 Prozent aller Importe aus den Mercosur-Staaten vollständig. Für alle anderen Bereiche gibt es Sonderregeln, längere Einschleif-Fristen beziehungsweise Quotenregelungen (Rinderfleisch, Geflügel, Zucker, etc.). Dort sind Quoten fixiert, die liberalisiert werden und danach handelt man so weiter, wie man es bisher schon gemacht hat: nach WTO-Recht.
Der Bauernbund bemängelt, dass durch das EU-Mercosur-Abkommen „die EU mit Billigimporten, unter anderem bei Zucker und Rindfleisch überschwemmt, die nicht den europäischen Standards bei Tierwohl und Umweltschutz entsprechen.“ – was ist an der Kritik dran?
Das Abkommen umfasst auch Regeln über Gesundheitsstandards und zusätzlich das Right to Regulate, sodass jeder Markt den Zugang grundsätzlicher Natur – welche Produkte auf den Markt kommen dürfen und welche nicht – selbstständig regeln darf. Diese Kritik, dass es unterschiedliche Standards geben solle, müsste genauer spezifiziert werden – und ob nicht in Wahrheit unterschiedliche Kostenstrukturen gemeint sind. Schon jetzt betreiben wir nach WTO-Recht Handel. Bei jenen Produkten, wo es explizite Quoten gibt – etwa bei Rindfleisch – wird ab 99.000 Tonnen Rindfleisch-Import auch wieder der Meistbegünstigungszoll der WTO angewendet. Es ist jetzt nicht so, dass der komplette Rindfleischmarkt für die Mercosur-Staaten uneingeschränkt geöffnet wird.
Kommen wir zur Industrie, diese steckt in Österreich wie Europa seit eineinhalb Jahren in der Rezession. Würde das Mercosur-Abkommen in der akuten Industrie-Krise helfen? Oder ist das eher ein langfristiges Projekt?
Das hängt sehr stark davon ab, wie es jetzt politisch weitergeht und wie schnell man das Abkommen ratifiziert. Dann würden die ersten Handelserleichterungen tatsächlich recht schnell kommen. Typischerweise haben solche Handelsabkommen aber immer eine phase-in-Periode von zehn Jahren, bis die Liberalisierung vollständig greift. Insofern wird das EU-Mercosur-Abkommen seine volle Wirkung eher mittelfristig entfalten können. Als Signal an die Industrie wäre das Abkommen aber wichtig, um zu zeigen, dass man alles versucht, um den Export wieder in die Gänge zu bekommen. Es wäre ein Hoffnungsschimmer und ein positives Signal für die Industrie, dass man neue Märkte leichter erschließen kann und auf wichtigen Zukunftsmärkten die Marktposition durch weniger Handelsbarrieren steigern kann. Dazu kommt auch die geopolitische Lage: Der wahrscheinlich zunehmende Protektionismus mit Donald Trump und dem Handelskonflikt zwischen China und den USA; möglicherweise auch zwischen den USA und Europa. Hier ist ein Abkommen wie das EU-Mercosur-Abkommen – das uns hilft, andere Handelspartner besser zu erschließen und Export wie Import zu intensivieren – grundsätzlich zu begrüßen.
Wir haben vorher bereits kurz über CETA gesprochen. Die Jahre vor CETA war das schlussendlich gescheiterte TTIP in aller Munde. Wifo-Direktor Gabriel Felbermayr titelt sein neues Buch mit „Der Freihandel hat fertig“. Ist das EU-Mercosur-Abkommen die letzte Chance auf einen großen „Deal“, bevor die De-Globalisierung voll zuschlägt?
Die EU ist bei Freihandelsabkommen nach wie vor aktiv und engagiert. So wurde vor kurzem erst das Neuseeland-Abkommen ausverhandelt. Weiters gibt es Verhandlungen mit Australien, die aber gerade pausieren. Grundsätzlich gibt es auch Ideen, mit Indien ein Freihandelsabkommen zu verhandeln. Die Europäische Union ist hier also nicht untätig – aber es wird zunehmend schwieriger, für solche Abkommen auch politische Mehrheiten zu bekommen.
Wie würde sich das EU-Mercosur-Abkommen auf die Handelsbilanz auswirken?
Hierzu gibt es Studien, wie etwa jene von der London School of Economics aus dem Jahr 2020. Diese geht von einem moderaten BIP-Wachstumseffekt für die EU als auch für den Mercosur-Raum aus. Je nach Studienansatz ergeben sich aber unterschiedliche Effekte, man muss hier in die Details blicken: So könnte sich etwa der Export von EU-Milchprodukten in die Mercosur-Staaten verdoppeln. Vor allem in jenen Sektoren, wo derzeit noch nicht viel Handel betrieben wird, sind die Potentiale durch das Abkommen am größten. Einen großen Effekt könnte es bei den Auto-Importen geben, bisher werden 35 Prozent Importzoll durch die Mercosur-Staaten eingehoben. Da wird es aber auf die konkrete Ausformung des Abkommens ankommen, denn was wir oft zu wenig beachten: Auch die anderen Vertragspartner haben genauso Sorgen vor gewissen Effekten. Bei uns sorgt sich die Landwirtschaft, in den Mercosur-Staaten die Automobilindustrie. Im Abkommen aus 2019 war etwa eine 15-jährige Frist für die vollständige Abschaffung von Autozöllen durch die Mercosur-Staaten vorgesehen. Es ist also nicht alles so schwarz-weiß, wie es aus politischen Überlegungen oft verkürzt kommuniziert wird.
Einer der Mercosur-Staaten ist Argentinien. Dort regiert Javier Milei heute auf den Tag genau ein Jahr. Was hat sich im ersten Jahr unter Milei verändert?
Was Javier Milei im Wahlkampf angekündigt hat, verfolgt er relativ konsequent. Zwei wesentliche Komponenten seiner wirtschaftspolitischen Agenda, die auf die Österreichische Schule zurückgehen, sind Preisstabilität und ein möglichst kleiner öffentlicher Sektor. Bei der Inflation sind ihm Erfolge geglückt: Die monatliche Inflationsrate ist mittlerweile bei 2,5 Prozent angelangt – als er ins Amt gekommen ist, lag sie noch bei 25 Prozent. Die monatliche Inflationsrate ist zwar immer noch höher als jene, die man in Europa jährlich haben möchte – aber die Dynamik der extremen Inflation konnte Milei umkehren. Das Preisniveau stabilisiert sich und das ist eine Grundvoraussetzung für die Erholung der argentinischen Wirtschaft. Beim zweiten Aspekt, dem Einsparen von öffentlicher Verwaltung und ganzen Ministerien, ist eine Beurteilung wohl noch zu früh. Es trägt aber jedenfalls zur Budgetkonsolidierung bei: Nach langen Phasen der Defizite hat Argentinien in den letzten Monaten erstmals wieder Budgetüberschüsse.
In Deutschland und auch hierzulande hört man jetzt öfter, man müsse „mehr [Elon] Musk und [Javier] Milei wagen“ – sind die Vergleiche angebracht? Was könnte man sich abschauen?
Von der institutionellen Struktur, von der Stabilität der Wirtschaft und von der Effizienz der Verwaltung liegen wir doch relativ weit auseinander. Man kann das also nicht direkt vergleichen, aber Milei zeigt, dass die argentinische Bevölkerung auch bereit ist, sich auf ein nicht unriskantes Experiment einzulassen, um Veränderungen herbeizuführen. Was wir in Europa in Zeiten eines wirtschaftlich schwierigen Umfelds durchaus diskutieren können, wären die Schlussfolgerungen des Draghi-Reports. Auch Mario Draghi – den man nicht unbedingt als jemanden bezeichnen kann, der bei Milei abschreibt – hat Bürokratieabbau gefordert. Man sollte die Bürokratie und Regulierung im europäischen Binnenmarkt überprüfen, um Kosten senken und Potenziale besser nutzen zu können.
Laut Economica kostet die Belastung durch Bürokratie in Österreich zwischen 10 und 15 Mrd. Euro pro Jahr – und laut Ifo-Institut müssen Angestellte in Deutschland 22 Prozent ihrer Arbeitszeit für bürokratische Tätigkeiten aufwenden. Hier könnte man also ansetzen?
Wenn man angebotsseitige Strukturpolitik machen möchte – und das muss man tun, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft wieder zu stärken – dann ist Bürokratieabbau ein Teil, wo man Potenziale heben soll, wo es möglich und sinnvoll ist. Dafür braucht man auf Seiten der öffentlichen Hand auch keine Budgets und aufgrund der aktuellen Schuldensituationen in Europa wäre Bürokratie-Abbau günstige Politik für das Budget und positive Politik für die Wirtschaft, wenn weniger Ressourcen für die Bürokratie aufgewendet werden müssen.