Enrico Letta, Präsident des Jacques Delors Institute am Salzburg Summit © IV
Enrico Letta, Präsident des Jacques Delors Institute am Salzburg Summit © IV
Europa

Enrico Letta: Integration der 27 Kapitalmärkte der EU als „Gamechanger“

Der frühere italienische Ministerpräsident Enrico Letta hat im April einen von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Auftrag gegeben Bericht über die Weiterentwicklung des EU-Binnenmarkts präsentiert. Der Präsident des Jacques Delors Instituts war anlässlich des „Salzburg Summits“ in Österreich zu Gast und sprach mit Selektiv über notwendige Reformen auf EU-Ebene.

„Wir sind in einem globalen Wettbewerb mit den USA, China und weiteren aufsteigenden Wirtschaftsmächten. Nur wenn wir jetzt die richtigen Maßnahmen durchsetzen, verhindern wir, dass wir den Anschluss verlieren“, sagte Letta. Er ist optimistisch, dass zumindest einige der Forderungen des „Letta Reports“ rasch umgesetzt werden können. Auf der einen Seite gebe es „bei vielen Punkten eine breite Mehrheit der Mitgliedsstaaten, die rasch Ergebnisse sehen“ wollen, auf der anderen Seite habe Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Antrittsrede vor dem Europäischen Parlament den Letta Report als Roadmap für ihr Reformprogramm für diese Amtsperiode präsentiert. Die zentralen Punkte sind eine Reform der Kapitalmarktunion, das Ende des national geprägten Mobilfunk-Sektors, Forschung als Grundfreiheit und eine einheitlichere Bahninfrastruktur.

Kapitalmarktunion weiterentwickeln

„Wir als Europa müssen klar sagen, wie wir eine faire, ökologische und digitale Transformation des Binnenmarkts finanzieren wollen“, so Letta. Dies könne nur funktionieren, wenn auch die Kapitalmarktunion der EU vorangetrieben wird. Aktuell würde zu viel Know-how und Kapital in Unternehmen abwandern, weil diese sich vor allem in den USA viel leichter an der Börse finanzieren können: „Die EU hat 27 Kapitalmärkte mit verhältnismäßig kleinen Börsen. Die USA haben eine Kapitalmarktunion auf 50 Mitgliedsstaaten.“ Die Integration der 27 nationalen Kapitalmärkte könne ein „Gamechanger“ sein, denn sie würde den freien Kapital- und Zahlungsverkehr vertiefen, Hindernisse abbauen – und die EU schlagartig attraktiver für Startups und größere Unternehmen machen.

Kurzfristig pocht Letta auf einige Reformen, die rasch umgesetzt werden können und die auch bereits von den EU-Finanzministerinnen und Ministern diskutiert werden, wie er betont. Ein europäisches Anlageprodukt und einen EU-weiten Fonds, über den Anlegerinnen und Anleger in Private Equity investieren können. Auch will er Börsengänge für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) erleichtern, indem die großen europäischen Börsen ihre KMU-Segmente zusammenlegen. So entstünde ein liquider Markt für diese Unternehmen. Zusätzlich empfiehlt er eine eigene Börse für „Deeptech“ mit eigenen Regeln und einer eigenen Aufsicht.

Aber auch zusätzliche öffentliche Gelder hält Letta für nötig. Dafür schlägt er vor, nationale Staatshilfen künftig verstärkt auf EU-Ebene zu verteilen, um eine Wettbewerbsverzerrung zwischen ärmeren und reicheren EU-Ländern zu verhindern.

Telekommunikation: „Fleckerlteppich“ überwinden

Den zweiten großen Reform-Bereich sieht Letta im Mobilfunk: „Wir müssen diesen Fleckerlteppich der nationalen Telekommunikation überwinden. Wir haben aktuell signifikante Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und damit eine beachtliche Investitionslücke. Denken Sie nur an Österreich, ein kleiner Markt, wie sollen die Mobilfunkbetreiber hier große Innovationen finanzieren können?“ Die Fragmentierung in 27 einzelne Märkte hindere Telekommunikationsanbieter daran, über die eigenen Landesgrenzen hinaus in weiteren EU-Ländern aktiv zu werden und zu wachsen. Doch der Technologiewandel hin zu neuen Netzstandards erfordere massive Investitionen, die kleine Operateure nicht stemmen könnten.

Mit der EU-Regulierung durch Gesetze wie den Digital Market Act und den Digital Service Act gehe die EU den richtigen Weg, doch müssen die 27-Ländervorschriften einheitlicher werden – Letta sieht hier viel Wohlwollen bei den EU-Mitgliedsländern und auch der Telekommunikations-Branche.

Forschung und Innovation: Fokus auf die Technologien von morgen

Außer den vier Freiheiten des Binnenmarkts (Güter, Dienstleistungen, Menschen und Kapital) will Letta eine fünfte Freiheit für Forschung und Innovationen in den EU-Verträgen verankern: „Wir brauchen einen größeren Fokus auf die Technologien von morgen. Und das müssen wir, wenn wir es strategisch angehen wollen, auch festschreiben.“

Unter anderem empfiehlt er, große europäische Projekte zu priorisieren, das europäische Netzwerk an Supercomputern – also Computern, die deutlich leistungsfähiger sind als Standardcomputer und damit komplexere Aufgaben übernehmen können – auszubauen und Forscherinnen und Forschern zur Verfügung zu stellen sowie Innovationen in „regulatorischen Sandkästen“ auszuprobieren. Die EU-Kommission soll dafür einen Aktionsplan formulieren.

Verkehr: Grenzüberschreitende Hochgeschwindigkeitszüge

„Ich bin für den Bericht quer durch Europa gereist, um mit Menschen zu sprechen. Was mich wirklich enttäuscht hat ist, dass wir es in Europa nicht geschafft haben, alle Hauptstädte mit Hochgeschwindigkeitszügen zu verbinden“, Letta hätte, erzählt er, seine Tour gern per Zug gemacht, musste aber immer wieder ins Flugzeug steigen. „Denn die Hochgeschwindigkeitsnetze enden fast immer noch an den Landesgrenzen.“

Er schlägt daher vor, den bestehenden Fonds Connecting Europe Facility (CEF) neu aufzusetzen und mit teilweise neuen Zielen zu versehen, um die nötige grenzüberschreitende Infrastruktur zu finanzieren.

Pragmatismus und Tempo

Angesprochen auf die Wahrscheinlichkeit, dass seine Vorschläge auch umgesetzt werden, betont Letta, dass vieles in dem Bericht keine großen Änderungen, aber gezielte Verbesserung wären – die leichter eine Mehrheit finden sollten. „Mir war wichtig, zu zeigen, was wir tun können, nicht nur, was wir debattieren sollten.“

Ohne Pragmatismus in den Reformansätzen würde man sich in der EU zu schnell in Grundsatzdebatten wiederfinden – genau deshalb basieren seine Vorschläge auf Input aus den Mitgliedsländern, aus Stimmen der Wirtschaft und Forschung. „Vor allem aber sind diese Vorschläge alle ohne eine Änderung der EU-Verträge machbar. Wenn wir weiterhin global wirtschaftlich mithalten wollen, geht es jetzt um Tempo. Und Pragmatismus, das kluge Adaptieren und Weiterentwickeln, ermöglicht rasches Tempo beim Umsetzen. Und das muss unser Ziel sein.“