Im Interview mit Selektiv spricht Pharmig-Generalsekretär Alexander Herzog über die Lage in der pharmazeutischen Industrie, die Abhängigkeit von China, die Lehren aus der Covid-Pandemie und wie es mit der Medikamentenversorgung diesen Winter in Österreich aussieht.
Österreich steckt seit sechs Quartalen in Folge in der Rezession, es gibt nahezu täglich Meldungen über Insolvenzen. Wie ist die Lage in der pharmazeutischen Industrie?
Alexander Herzog: In Wahrheit ist die Lage viel, viel schlimmer. Denn auch wenn wir keine unmittelbaren Insolvenzgefahren sehen, ist in der pharmazeutischen Industrie die schleichende Abwanderung das große Problem. Aufgrund der enormen Produktions- und Energiekosten in Österreich wäre die Politik aufgerufen, hier Maßnahmen zu setzen, um diese schleichende Abwanderung zu stoppen. Nach wie vor wird in Österreich investiert, aber ich sehe die Sorgenfalten in den Gesichtern der Unternehmer, ob das auch so weitergehen wird – ob Stellen eingespart werden, zukünftige Investitionen überdacht oder das nächste Werk überhaupt in einem anderen Land geplant wird. Oft wird vom „Re-Shoring“ gesprochen – also, dass wir Produktionsstätten wieder vom Ausland nach Österreich zurückholen. Aber es wäre schön, wenn wir erst einmal den Prozess des Abwanderns stoppen könnten. Dazu gehört eine integrierte Standortpolitik. Wir brauchen ein klares Bekenntnis der Republik Österreich zu einer Pharma- und Life-Science-Standortstrategie. Dabei geht es A) um ein Signal, dass Industrie willkommen ist im Land. Und B) geht es um das Schaffen von hochwertigen Arbeitsplätzen und das Absichern von hochwertigen Arbeitsplätzen in der Forschung, Entwicklung, Produktion und generell im Ökosystem der pharmazeutischen Industrie. Wenn man sich nicht ein bisschen um die pharmazeutische Industrie in Europa kümmert, dann kann man anhand der Automobilbranche sehen, wo man dann landet.
Wir sind eine der letzten Branchen, die noch investitionsfähig und -willig ist. Der Wettbewerb läuft sozusagen zwischen Wien, Singapur und Sao Paulo! Wir sollten darauf schauen, dass die Pharma-Industrie in Europa gehalten werden kann, damit es uns eben nicht so geht wie der Automobilindustrie, wo wir jetzt nur zuschauen können, wie uns andere Regionen überholen. China ist beispielsweise längst nicht nur mehr die verlängerte Werkbank der Welt, sondern dort findet zunehmend auch Forschung und Entwicklung statt. Die Anzahl der Patentanmeldungen ist in Europa relativ konstant, während sie in den USA ansteigt und in China sogar sehr stark ansteigt. China hat also nicht nur aufgrund niedriger Energie- und Produktionskosten einen Standortvorteil, sondern investiert auch viel Geld und Brainpower in die Entwicklung eines Forschungs- und Entwicklungs-Ökosystems. Diesen Trend beobachten wir aus europäischer Sicht mit Sorge. Deshalb haben wir auch die EU-Kommission aufgefordert, diesem Trend entgegenzutreten und in Europa die rechtlichen Rahmenbedingungen und ein Ökosystem zu schaffen, die das fördern, was wir in Europa am besten können: Nämlich alles, was mit dem Kopf zu tun hat. Wenn wir das auch noch verlieren – dann Gute Nacht.
Was halten Sie unter diesen Voraussetzungen von den Versuchen einer „strategischen Autonomie“ von China?
Autonomie von China ist ein sehr großes Wort. Die Europäische Union gefällt sich sehr in überbordender Bürokratie und Regulatorien und vergisst dabei, die Rahmenbedingungen zu schaffen, um innovative Industrien in der EU zu halten, zu fördern und idealerweise auch auszubauen. Wir sollten uns nicht abschotten, sondern in den Ring einsteigen und das als Wettbewerb begreifen.
Steigende Energiekosten, Rohstoffkosten und Lohnstückkosten – kann die österreichische pharmazeutische Industrie so im Wettbewerb bestehen?
Die Produktionskostensteigerung in Europa ist ein Riesenproblem, vor allem bei den preissensiblen Medikamenten – das sind vor allem jene, deren Patentschutz abgelaufen ist und deren Preise unter der Rezeptgebühr liegen. Bei diesen Arzneimitteln leiden die österreichischen Produzenten wahnsinnig unter der Steigerung der Energiekosten. Auch, weil sie diese Preissteigerungen am Markt nicht so einfach durchsetzen können. Das ist das Grundproblem unserer Industrie: Um ein Produkt zum Patienten zu bekommen, muss es ein aufwändiges Preisfeststellungsverfahren der Sozialversicherungen durchlaufen. Danach geht der Preis immer nur nach unten. Steigen eben Kosten so enorm an, dass sich die Produktion nicht mehr rentiert, muss der Hersteller einen Preiserhöhungsantrag stellen. Dieser kostet Zeit und Geld – und die Erfolgsaussichten sind überschaubar. Die Produzenten leiden also sehr stark unter den hohen Energiekosten und der Tatsache, dass keine wirksamen inflationsdämpfenden Maßnahmen gesetzt wurden. Das hat dem Produktionsstandort Österreich nachhaltig geschadet.
Es steht ein Sparpaket bevor, allerdings will man auch die Konjunktur nicht abwürgen – wie ist die Lage bezgl. Förderungen und Investitionsanreizen in der Pharmabranche? Befürchten Sie Einschnitte oder Einsparungen?
Dazu fehlt mir ehrlich gesagt die Fantasie. Wenn hier etwas eingespart werden soll, dann verschwinden die Produkte sehr, sehr schnell vom Markt. Denn die Margen sind jetzt schon rasiermesserdünn, wenn sich diese ins Negative drehen, wird sich der Produzent vom Markt zurückziehen.
Im Volksmund stöhnt man oft über „Apothekerpreise“. Ihrerseits wird kritisiert, Arzneien seien in Österreich viel zu billig. Woher kommt diese Diskrepanz in der Wahrnehmung?
Viele Schmerzmittel sind mittlerweile für unter 2 Euro erhältlich. Ist das ein fairer Preis? Ist mit diesem Preis Versorgungssicherheit garantiert? Für 2 Euro bekommen Sie nicht einmal mehr eine Wurstsemmel. Das ist natürlich kein fairer Preis.
An welchen Schrauben müsste gedreht werden, damit für Sie „faire Preise“ zustande kommen können?
Wir brauchen langfristige Preisregularien, Planungssicherheit und eine Systematik der automatischen Inflationsanpassung. Überall wird indexiert – Mieten, Betriebskosten, Versicherungen, etc. – nur bei den Medikamenten nicht. Und dann wundert man sich, wenn sie irgendwann nicht mehr da sind.
Während der Covid-Pandemie kam es überall zu Lieferkettenproblemen, vor allem aber auch bei Medikamenten. Was haben Sie aus diesen schwierigen Jahren gelernt, sind wir resilienter geworden?
Der Aufbau von Lieferketten ist ein langfristiges Geschäft, das geht nicht von heute auf morgen. Wir haben alternative Lieferwege gefunden, denn es ist ja auch in unserem ureigenen Interesse, dass wir die Patientinnen und Patienten auch gut beliefern. Die unsichere globale Weltlage – gesperrte Flugrouten und Lufträume, unsichere Schiffsrouten durch Terror und Piraterie – macht unser Geschäft aber auch nicht leichter. Das obsessive Auf-den-Preis-Schielen vor allem bei Produkten im patentfreien Segment, wo sich der europäische Raum und vor allem Österreich sehr negativ hervorgetan haben, hat dazu geführt, dass die Resilienz eigentlich extrem gesunken ist.
Das haben wir in den letzten Wintern gesehen, als immer wieder Medikamente knapp wurden – sich Schlangen vor Apotheken gebildet haben, in der ganzen Stadt durchtelefoniert wurde, wo denn noch gewisser Hustensaft verfügbar sei, etc. Wie wird es diesen Winter aussehen, wie sieht es mit der verpflichtenden Medikamentenbevorratung aus?
Wir haben diese Verordnung zur Medikamentenbevorratung immer sehr kritisch gesehen, weil das in einem einzelnen Land wenig Sinn hat – wenn, dann muss so etwas europaweit geregelt werden. Immer mehr und mehr Länder beginnen jetzt mit Einzelbevorratungsaktionen, das ist nicht der Sinn der EU. Weiters tritt diese Verordnung erst mit Ende April 2025 in Kraft – man wird also frühestens Winter 2025/2026 sehen, ob das zu einer Verbesserung der Versorgung führen wird. Jedenfalls kann man nur das bevorraten, was auch da ist. Wenn etwas nicht da ist, kann man es auch nicht bevorraten – auch wenn das Ministerium eine Liste vorschreibt. Wir nehmen den politischen Willen zur Kenntnis, aber er wird sich praktisch nicht niederschlagen – für diesen Winter hat sich eigentlich von der Bevorratung her noch nichts geändert. Wir haben immer für Erleichterungen plädiert, sodass es uns möglich ist, Medikamente innerhalb der Europäischen Union je nach Bedarf hin- und herzutransportieren. So sind zum Beispiel Grippewellen in Spanien im Winter weniger stark ausgeprägt als in Dänemark. Nach wie vor gibt es aber auch innerhalb der Europäischen Union regulatorische Hürden, wenn wir Produkte von einem Land in ein anderes – das sie gerade dringender benötigt – bringen möchten.