Warum ist der Kapitalmarkt in Österreich unterentwickelt? Einerseits hat die Finanzierung über Bankkredite eine gewisse kulturhistorische Tradition, es liegt aber auch an der Struktur des Sozialsicherungssystems, sagt der CEO der Wiener Börse, Christoph Boschan. Weil in der Altersvorsorge kaum auf den Kapitalmarkt gesetzt wird, steht zu wenig Kapital für risikoreichere Geschäftsmodelle zur Verfügung. Wenig hilfreich seien Ideen für höhere Steuern auf Kapitalerträge. Die Behaltefrist könnte helfen, sei aber nicht die bedeutendste Maßnahme.
Wenn Unternehmen in Österreich eine Finanzierung brauchen, läuft das in den meisten Fällen über Bankkredite und nicht wie in anderen Ländern über die Börse. Warum ist das eigentlich so?
Christoph Boschan: Das ist auf gewisse Weise kulturhistorisch bedingt und irgendwann wird es auch zu einem sich selbst verstärkenden Kreislauf. In Österreich findet zudem einiges auf Kreditseite statt, das eigentlich klassischerweise eher auf die Eigenkapitalseite gehören würde, und zwar genau an der Schnittmenge klassischer Industrien und neuer, risikoreicher Geschäftsmodelle. Und schließlich beeinflusst auch die Organisation der sozialen Sicherungssysteme die Summe des zur Verfügung stehenden Risiko-Eigenkapitals.
Es steht also zu wenig Kapital zur Verfügung?
Das ist der große strukturelle Unterschied, der den Märkten zugrunde liegt. Im alten Europa, aber ganz besonders im deutschsprachigen Raum, gibt es diese Betonung in der Altersvorsorge auf das Umlageverfahren, ohne wenigstens einen kleinen Teil am Kapitalmarkt zu veranlagen. Ein durchschnittliches OECD-Industrieland packt 100 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung in die zweite und dritte Säule, also in die betriebliche und private Vorsorge. In Deutschland und Österreich sind es 7 bis 8 Prozent. Solange sich das nicht ändert, steht das Handwerkszeug für eine substanzielle Ausweitung der Eigenkapitalfinanzierung gar nicht zur Verfügung. Wo soll es denn herkommen? Wenn man der Meinung ist, man kann das alles aus dem Ausland holen und die amerikanischen Geldhähne sprudeln lässt, dann geht natürlich auch das, was daraus entsteht, ins Ausland.
In Österreich diskutieren wir in diesem Zusammenhang vor allem die Behaltefrist als Maßnahme. Dabei geht es darum, die hohe Besteuerung auf Anlagegewinne nach einer bestimmten Anlagedauer auszusetzen, um die Vorsorge attraktiver zu machen. Seit vielen Jahren wird sie nicht umgesetzt, rechnen Sie unter der neuen politischen Konstellation, die sich abzeichnet, damit?
Was soll ich sagen, es steht in beiden Wahlprogrammen. Nach aller Enttäuschung über die Umsetzungsfähigkeit von Regierungen und ihrer sich selbst gegebenen Arbeitsprogramme, erwarten wir jetzt natürlich eine Umsetzung. Und es muss etwas passieren. Es gibt kaum ein Industrieland mit so einer wirtschaftlichen Potenz wie Österreich, das die Chancen aus dem Kapitalmarkt so vernachlässigt. Wie Margaret Thatcher sagte: es gibt kein öffentliches Geld. Es ist immer privates Geld, selbst wenn es nach öffentlichem Primat verwendet wird. Es kommt also entweder aus einem Steueraufkommen, das wiederum im Kern aus der privatwirtschaftlichen Wertschöpfung oder aus Schulden kommt. Hinter Schulden stehen immer private Investoren, die das Geld zur Verfügung stellen. Bei klassischen Industrien funktionieren Kredite gut. Für innovative Jungunternehmen braucht es eine Kapitalfinanzierung und man muss überlegen, wie man die bereit stellt. Die Behaltefrist ist ein Anfang.
Jetzt ist gerade die Zeit, in der Sparpakete geschnürt werden – wie groß wäre der Einnahmenentgang durch eine Behaltefrist?
Eine Behaltefrist ist eine Win-Win-Win-Win-Win-Situation und ein Verzicht auf wirklich nicht-substanzielle Erträge. Das Gesamtaufkommen der Kapitalertragsteuer würde ja nicht vollständig fallen. Es ist der Verzicht auf eine überschaubare Steuereinnahme, aber das Freisetzen von Wachstumspotenzial in ungleich größerer Art.
Zur Behaltefrist gab es schon ganz unterschiedliche Ideen für konkrete Modelle. Welches würden Sie bevorzugen?
Das Modell, das allen überlegen ist „ohne Extras“ und nicht chirurgisch ausgerichtet auf Transformation oder grüne Investments. Bloß keine Themensteuer an der Stelle – der Markt muss entscheiden, wo dieses Geld allokiert wird. Im Bereich des Kapitalmarkts haben sich alle Themensteuern als problematisch erwiesen, weil sie Ungleichgewichte aufbauen. Auch den Zusammenhang von Risiko und Rendite sollte man dabei verstehen. Green-ETF-Anleger mussten jetzt schmerzhaft erkennen, dass ihre Green ETFs in den letzten Jahren keine Rendite erzielt haben, obwohl die Überschriften in den Zeitungen das Gegenteil versprochen hatten. Wenn man eine Themensteuer macht, nimmt man bewusst aus einigen Wirtschaftsbereichen Risiko weg. Am Kapitalmarkt werden die Renditen aber für Risiko bezahlt. Wenn ich einem Green-Unternehmen Risiken wegnehme, sinken die Kapitalkosten. Wenn die Kapitalkosten sinken, sinken die Renditen der Anleger. Ein Naturgesetz, das von Politikern nicht verstanden wird.
In Deutschland hat der grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck vorgeschlagen, auf Kapitalerträge eine Sozialabgabe zu erheben …
Ganz schlimm. Der kommt aus einer Koalition, die vor sechs Wochen noch eine Aktienrente einführen wollte und jetzt will er die Kapitalerträge höher besteuern. Die Linke hat es geschafft dieses Narrativ zu etablieren, dass Arbeitseinkommen vermeintlich hoch und Kapitalerträge kaum besteuert sind. Auf der Kapitalerstragseite sieht es aber so aus: Menschen gehen arbeiten und zahlen Lohnsteuer. Aus dem lohnversteuerten Einkommen zahlen sie dann als Unternehmen vielleicht auch noch Körperschaftsteuer – in Österreich zwischen 21 und 22 Prozent und in Deutschland zwischen 22 und 25 Prozent. Die Körperschaftsteuer ist ja bereits eine fortlaufende Besitzsteuer der Aktie. Auf Dividenden und Kursgewinne wird dann noch einmal die Kapitalertragsteuer erhoben. Die Überlegungen, das höher zu besteuern, gehen also in die falsche Richtung.
Was würde es noch brauchen, um den Kapitalmarkt in Österreich in Schwung zu bringen?
Man müsste im Pensionssystem ansetzen. Man könnte auch den übergroßen Umlageverfahrensanteil teilweise am Kapitalmarkt allokieren. Zusätzlich bräuchte es eine substanzielle verpflichtende betriebliche Altersvorsorge wie in der Schweiz und einen Staatsfonds nach norwegischem Vorbild. Die ÖBAG könnte diesen Staatsfonds aufsetzen – das wäre auch ein besserer Einsatzzweck für die Dividenden der Staatsbeteiligungen als die jetzt diskutierten Sonderdividenden zur Budgetsanierung. Die Behaltefrist wäre bei all diesen Maßnahmen vermutlich die kleinste.
In der Vergangenheit haben Sie gerne betont, dass es unter Grünen-Wähler einen hohen Anteil an Aktienbesitzern gibt und daher der Widerstand der Grünen gegen solche Maßnahmen unverständlich ist. Wie sieht es eigentlich bei FPÖ-Wählern aus?
Ja, das ist der Fall und wird gerne damit erklärt, dass sich die Grünen über die eigene Klientel hinaus auch für andere einsetzen. Bei FPÖ-Wählern ist der Anteil an Aktienbesitzern bislang noch geringer.
Zur Person
Christoph Boschan ist seit 1. September 2016 Vorstandsvorsitzender der Börsengruppe Wien und Prag. Er startete seine Berufslaufbahn 1999 als Wertpapierhändler bei Tradegate. Vor seinem Wechsel an die Wiener Börse war er unter anderem Joint-CEO bei der Börse Stuttgart sowie Vorstand der Euwax.