Gestern wurde die neue Bundesregierung aus ÖVP, SPÖ und Neos angelobt. In ihrem 211-Seiten starken Regierungsprogramm „Jetzt das Richtige tun. Für Österreich“ finden sich die Ideen von drei teilweise sehr unterschiedlichen Parteien. Selektiv hat Experten gebeten, die Regierungspläne im Arbeits- und Sozialbereich näher anzusehen und einzuordnen.
Auf diesen 211 Seiten wird ganze 175-mal „evaluiert“, bemängelt der ehemalige Neos-Nationalratsabgeordnete Gerald Loacker. Die geplanten Reformen im Pensionsbereich gehen ihm nicht weit genug, der „Nachhaltigkeitsmechanismus“ ist sowohl für ihn als auch für die Vorsitzende der Alterssicherungskommission, Christine Mayrhuber, nicht konkret genug. Loacker kritisiert weiters die teilweise Rücknahme der Abschaffung der „Kalten Progression“, dem schließt sich auch Agenda-Austria-Ökonomin Carmen Treml an. Hanna Lichtenberger von der Volkshilfe vermisst Vermögens- und Erbschaftssteuer für „Superreiche“. Der Caritasdirektor der Erzdiözese Wien, Klaus Schwertner, sieht im Regierungsprogramm „Grund zur Hoffnung und Zuversicht“ und appelliert: „Wir werden den Weg bewältigen, auch wenn er steiler wird.“
Im Laufe der kommenden Tage folgen weitere Analysen zu Themen wie Standort, Klima, Deregulierung oder Freihandel. Die Experten-Analyse zum Thema „Steuern & Finanzen“ finden Sie hier.
„Evaluiert wird laut Regierungsprogramm 175-mal auf 211 Seiten“– Gerald Loacker, Jurist und ehem. Nationalratsabgeordneter
Arbeit
Der wesentlichste Punkt zur Materie „Arbeit“ findet sich an anderer Stelle, nämlich bei den Steuern. Durch das Sistieren eines Drittels der Progressionsabgeltung werden die Abgaben auf Arbeit wieder steigen. Die Bildungskarenz bleibt erhalten, anders als das noch FPÖ und ÖVP geplant hatten. Sie wird „treffsicher reformiert zur innerbetrieblichen Höherqualifizierung“. Künftig sollen Selbstverständlichkeiten wie „Teilnahmebestätigungen“ und „stärkere Anwesenheitsverpflichtungen“ verlangt werden.
Rund um das Arbeitslosengeld finden sich ein paar Hoffnungspunkte wie z.B. die Einschränkung (nicht Streichung!) des geringfügigen Zuverdienstes neben dem Bezug von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. Der Unterpunkt „Teilzeit“ enthält u.a. die „Meldung der vereinbarten Arbeitszeit bei der Anmeldung an die SV“. Entbürokratisierung ist das nicht. Im Arbeitsrecht will die Regierung die „Regulierungsdichte evaluieren“. Evaluiert wird laut Regierungsprogramm übrigens 175-mal auf 211 Seiten.
Soziales
Die neue Sozialhilfe scheint das oberösterreichische Modell abzubilden und steht in inhaltlichem Zusammenhang mit dem Asylkapitel. Wenn das im Ergebnis für manche Bundesländer geringere Leistungen bedeutet, ist das im Sinne des Arbeitsmarktes zu begrüßen. Zu den Pensionen ist ein Anheben des Korridoralters auf 63 vorgesehen. Das bringt dem System genau ein Jahr Verschnaufpause. Danach gehen die Menschen mit 63 in Frühpension mit geringerem Abschlag und 12 Versicherungsmonaten mehr, also mit höherer Pension. Künftig werden Versicherungszeiten erforderlich, das sind aber nicht notwendigerweise Beitragszeiten aus eigenem Erwerb, sondern z.B. auch Notstandshilfebezug. Alle anderen Punkte (Nachhaltigkeitsmodus) betreffen die Zeit ab 2030, also zukünftige Gesetzgebungsperioden.
Eine Nachhaltigkeitslogik, die das Regierungsprogramm plant, steht aktuell im Alterssicherungskommissions-Gesetz und stand bereits im ASVG der Reform Schüssel 2003, wurde jedoch nie praktiziert. Zum vierten Mal schafft es ein General-Pensionskassenvertrag ins Regierungsprogramm. Lassen wir aller guten Dinge vier sein.
„Es fehlt an großen Reformen, um den großen demografischen und wirtschaftspolitischen Herausforderungen gerecht werden“ – Carmen Treml, Ökonomin Agenda Austria
Gut zu heißen ist …
- … die steuerliche Entlastung von Überstunden und „Arbeiten im Alter“-Modell: Dringlicher wäre es gewesen, die hohe Arbeitssteuerbelastung zu senken. Zumal bereits die Kompensation der kalten Progression im Vorjahr für eine Überstunden-Entlastung missbraucht wurde.
- … dass durch die Einführung eines attraktiven „Arbeiten im Alter“-Modells ab 2026 das Zuverdiensteinkommen der Arbeitnehmer mit 25 Prozent endbesteuert werden und Sozialversicherungsbeiträge für die Dienstnehmer entfallen sollen.
- … die Einschränkung der Geringfügigkeit: Besser als eine Weiterentwicklung des steuerfreiem, monatlichem Zuverdienst von 551,1 Euro wäre eine komplette Abschaffung gewesen.
- … die Verschärfung des Zugangs zur Korridorpension (ab 63 Jahren; 42 statt bisher 40 Versicherungsjahren) sowie die Integration der großzügigen Altersteilzeit in das Teilpensionssystem.
- … die Abschaffung der Zweckwidmung der Wohnbauförderung, damit die Gelder auch tatsächlich dem Wohnungsmarkt zufließen.
Problematisch ist …
- … die defacto Wiedereinführung der kalten Progression durch das geplante Aussetzen eines Drittels der Inflationsanpassung des Einkommensteuertarifs.
- … die Aufstockung der Kurzarbeit, da sie ein gutes Instrument ist, um temporäre, nicht aber strukturelle Krisen zu überwinden.
- … das Ausbleiben einer Anhebung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters. Der vorgeschlagene „Nachhaltigkeitsmechanismus“, wenn der Budgetrahmen nicht hält, ist angesichts der demografischen und budgetären Dringlichkeit höchst naiv. Reformvorschläge zur Stärkung der betrieblichen und privaten Pensionsvorsorge fehlen komplett.
- … die Wohnbauinvestitionsbank, um günstige Kredite zu vergeben und damit den Eigentumserwerb zu vereinfachen. Abgesehen davon, dass dies durch einen zweckmäßigen Einsatz der Wohnbauförderung längst möglich wäre, wäre es zielführender, die Steuern und Abgaben auf die erste Immobilie zu senken.
- … der geplante Mietdeckel für die nächsten drei Jahre. Es wird zu Ausweichreaktionen, beispielsweise einer Zunahme an Befristungen, kommen. Eine Interventionsspirale auf Kosten von leistbarem Wohnraum und Qualität droht.
Fazit: Neben vielen kleinen positiven Aspekten fehlt es an großen Reformen, um den großen demografischen und wirtschaftspolitischen Herausforderungen gerecht werden. Arbeitnehmer sollen steuerlich entlastet werden, aber nur jene, die Überstunden machen. Das ist zu wenig, um im Hochsteuerland Österreich Dynamik am Arbeitsmarkt zu entfachen. Mangelnde Ambitionen gelten auch für den Pensionsbereich. Um die budgetäre Lage wesentlich zu verbessern, braucht es sofort wirksame Schritte. Ohne Reformen verzichten wir langfristig auf Wachstum und gefährden zunehmend unser (noch) hohes Wohlstandsniveau.
„Nur wenige Impulse zu einer sozialgerechten einnahmenseitigen Budgetsanierung“ – Hanna Lichtenberger, Leiterin Sozialpolitik und Forschung in der Volkshilfe Österreich
Die Volkshilfe Österreich begrüßt das Zustandekommen der demokratisch orientierten Bundesregierung. Im Kapitel Arbeit und Soziales finden sich viele positive Impulse. Besonders erfreut ist die Volkshilfe Österreich über die geplante Einführung einer Kindergrundsicherung. Das Ziel der Regierung, Kinderarmut bis 2030 zu halbieren, ist ambitioniert und bitter nötig. Denn die Folgen von Kinderarmut kosten uns als Gesellschaft jedes Jahr 17,2 Mrd. Euro, so schätzt die OECD. Gleichzeitig führt Kinderarmut zu Nachteilen im Bereich Gesundheit, Bildung, Teilhabe und bei der materiellen Absicherung. Weitere wichtige Projekte sind der Chancen-Index in der Schulfinanzierung, die Mietpreisbremse, das zweite verpflichtende Kindergarten-Jahr oder auch die Pläne zur Verkürzung der Wartezeit bei Ärztinnen und Ärzten.
Mit einer Vermögens- und Erbschaftssteuer hätten Superreiche einen gerechten Betrag zu einem ausgeglichenen Budgethaushalt leisten können.
Hanna Lichtenberger
Verschlechterung beim Zuverdienst zum Arbeitslosengeld sehen wir problematisch: geringfügige Jobs helfen beim Wiedereinstieg und führen dazu, dass Familien weniger finanziell belastet sind. Kritisch sehen wir zudem, dass es im Bereich Steuern mit der Bankenabgabe nur wenige Impulse zu einer sozialgerechten einnahmenseitigen Budgetsanierung gibt. Mit einer Vermögens- und Erbschaftssteuer hätten Superreiche einen gerechten Betrag zu einem ausgeglichenen Budgethaushalt leisten können.
„Das Regierungsprogramm sollte Grund zur Hoffnung und Zuversicht geben“ – Klaus Schwertner, Caritasdirektor der Erzdiözese Wien
154 Tage hat es gedauert bis Österreich ab heute eine neue Regierung hat. Das ist zu allererst eine gute Nachricht für Österreich. Das präsentierte Regierungsprogramm – das macht eine erste Durchsicht deutlich – ist nicht vom selben illiberalen Geist durchzogen, der unserem Land noch vor wenigen Wochen gedroht hätte. Die Koalition setzt positive Schritte. Gerade in den von Krisen geprägten vergangenen Jahren haben wir gesehen, dass viele Menschen massiv unter Druck geraten sind. Vor diesem Hintergrund sind diverse Vorhaben im Sozialbereich erfreulich: Etwa die Einführung einer Kindergrundsicherung, eine österreichweit einheitliche Sozialhilfe sowie der geplante Fokus auf leistbares Wohnen – mit Maßnahmen wie der Aussetzung von Mieterhöhungen für ein Jahr sowie die Einführung einer besseren Mietpreisbremse. Auch der angedachte Energie-Sozialtarif für einkommensschwache Haushalte wäre ein wichtiger Schritt. Gerade auch weil wir in den Sozialberatungsstellen der Caritas sehen, wie viele Menschen sich aktuell die Kosten rund um Wohnen und Energie nicht mehr leisten können. Der aufgeschobene Zugang zu vollen Sozialleistungen für anerkannte Geflüchtete bereitet allerdings Sorgen. Denn gelingende Integration – und diese soll laut Regierungsprogramm ja ab Tag eins gefördert werden – braucht auch eine sichere Lebensgrundlage.
Um bessere Integration muss es auch im Bereich Arbeit gehen. Aktive Arbeitsmarktpolitik ist dabei essentiell um benachteiligte Personen zu unterstützen – etwa Menschen mit Behinderungen, Menschen mit Fluchtgeschichte und der steigenden Anzahl an langzeitarbeitslosen Menschen. Im Hinblick auf diese großen Aufgaben ist die Aufstockung der Mittel für das Arbeitsmarktservice jedenfalls positiv zu bewerten. Details zur genauen Ausgestaltung und Umsetzung wird man sich noch ansehen müssen – und zwar in allen Bereichen.
Das Regierungsprogramm sollte Grund zur Hoffnung und Zuversicht geben. Denn es ist von einer wichtigen Grundmelodie geprägt: Wir werden den Weg bewältigen, auch wenn er steiler wird. Wenn wir zusammenstehen und dabei nicht auf die Ärmsten in unserer Gesellschaft vergessen.
„Aus ökonomischer Sicht sind gerade im Arbeitsmarkt- und Sozialbereich langfristige Programme notwendig“ – Christine Mayrhuber, Wifo-Ökonomin und Vorsitzende der Alterssicherungskommission
Das Regierungsprogramm ist unter doppelt schwierigen Bedingungen zustande gekommen: unter den Erfordernissen der Budgetkonsolidierung und der Mehrheits- und damit Kompromissfindung.
Budgetkonsolidierung, Investitionen und Strukturwandel sind die Prinzipien, unter denen sich die vielfältigen Vorhaben im Regierungsprogramm einordnen lassen. Die geplanten Maßnahmen im Arbeitsmarkt- und Sozialbereich, sind sowohl investiv als auch strukturverändernd, wie z.B. die angekündigten Qualifizierungsmaßnahmen und die Forcierung altersgerechter Arbeitsplätze. Ein höheres Beschäftigungsniveau wird durch die Verlängerung der Erwerbsphase, durch eine modifizierte Korridorpension (derzeit mit Vollendung des 62. Lebensjahres und nach 40 Versicherungsjahren) angestrebt.
Zentral wird auch der angekündigte Nachhaltigkeitsmechanismus im Bereich der Pensionsfinanzierung sein, wobei die Regierungsparteien noch definieren und festlegen müssen, was unter Nachhaltigkeit zu verstehen ist. Aus ökonomischer Sicht sind gerade im Arbeitsmarkt- und Sozialbereich langfristige Programme notwendig, deren positive ökonomische Effekte nicht diese Regierung, sondern in einigen Bereichen erst die zukünftige Regierung und Bevölkerung ernten kann, und für Österreich das Richtige sind.
Im Laufe der kommenden Tage folgen weitere Analysen zu Themen wie Standort, Klima, Deregulierung oder Freihandel. Die Experten-Analyse zum Thema „Steuern & Finanzen“ finden Sie hier.